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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

wohl nicht hat träumen lassen, daß sein musikalisches Meisterwerk noch zu einem Text über Zündhölzer und Zahnstocher werde gemißbraucht werden – ein wahrer Höllenlärm, der den ganzen Tag über tobt.

Daß wir Fremde sind, sieht natürlich jeder der Bengel auf den ersten Blick, daß wir Deutsche sind, ebenso. Folgerichtig stürzt der erste, der uns sieht, auf uns los: „Signori, prendete questo giornale; l’imperatore di Germania è ammalato.“ (Nehmen Sie diese Zeitung – der deutsche Kaiser ist krank.) Als patriotische Deutsche, die an ihrem Kaiserhaus liebevoll hängen, kaufen wir das Blatt, um zu erfahren, worin die Krankheit Seiner Majestät besteht. Natürlich ist die Krankheit reiner Schwindel; denn dem deutschen Kaiser geht es besser als je; das Blatt erzählt sogar von einer Reise desselben, aber der Verkäufer hat seinen Zweck erreicht und ist schon längst im Gewühl verschwunden, um andere anzuschwindeln, ehe wir uns nach ihm umsehen.

Wir sind am ersten Ziel unserer Wanderung angelangt und treten in eine der unzähligen Kirchen, um irgend ein berühmtes Deckengemälde oder eine Madonna zu bewundern. Dicht gedrängt voll von Andächtigen ist der Raum; elegante Damen und Herren, Bauern aus der Campagna, Arbeiter, alles holt sich im Heiligthum den Morgensegen für das beginnende Tagewerk. Am Weihwasserbecken aber entwickelt sich eine sonderbare Scene. Zwei kleine, barfüßige Gassenjungen mit braunen Waden und Armen lechzen förmlich nach dem heiligen Wasser, allein sie sind viel zu klein, um die Hand in das Marmorbecken tauchen zu können. Was thun? Ohne jedes Besinnen biegt sich der eine vornüber: „monta, monta! (steig’ hinauf!); der andere klettert ihm auf die Schultern, taucht den Finger, nein, die ganze Hand in das Weihwasser, bekreuzt sich und springt herunter. Das geht alles wie der Blitz.

Nachdem wir die Kirche verlassen, sehen wir uns nach einem Wagen um und fahren zur zweiten Nummer unseres heutigen Programms, nach Sanct Peter. Da wir aussteigen, ist der Kutscher, wie immer, natürlich nicht zufrieden mit dem Lohn und verlangt durchaus noch eine buona mancia (Trinkgeld). Während wir mit ihm streiten, kommt ungerufen ein kleiner Kerl von sechs oder sieben Jahren herzu und sagt uns in väterlich protegirendem Gönnerton. „O nein, meine Herren, zahlen Sie ihm nicht mehr als 80 Centesimi! Das ist genug – basta questo.“ In demselben Athem bittet er sogleich um einen Soldo für seine Intervention; wir lachen, geben ihm ein Geldstück, das er mit gnädigem: „grazie, Signore! a rivederla“ (Danke, auf Wiedersehen!) annimmt, dann aber entweicht er flüchtig; denn der Kutscher greift ingrimmig nach der Peitsche, um ihm die Vermittelung seinerseits zu belohnen.

Kaum haben wir zwanzig Schritte gemacht, als bereits ein anderer Junge herbeieilt mit geschäftigem:

„Si, Signori, Sie haben ganz Recht, hier geht’s nach S. Pietro in Vaticano – also einen Soldo!“

Welch logische Begründung! Natürlich jagen wir ihn fort, aber nach ein paar Augenblicken kommt ein Dritter herbeigestürzt:

„Mein Herr, mein Herr, Sie verlieren Ihr Taschentuch. Also einen Soldo!“

Vom Verlieren des Taschentuches ist natürlich keine Rede; das Taschentuch sieht nur vorschriftsmäßig etwas aus der Brusttasche hervor. Auch dieser Versucher wird abgewiesen – allein wir kommen vom Regen in die Traufe. Schnurstracks steuert ein kaum fünfjähriger Stiefelputzer mit hochgeschwungenen Bürsten auf uns zu:

„Die Stiefel, meine Herren!“

Da wir nicht so eitel sind wie die römischen Herren, die mindestens jede Stunde ihre Stiefeln putzen lassen, ignoriren wir diese Mahnung. Doch er zieht andere Saiten auf:

„Aber, meine Herren, solche Stiefel!“ ruft er vorwurfsvoll und läuft neben uns her. „O Dio mio! welch schmutzige Stiefel! O santa madre di Dio! welche Stiefel! O, meine Herren – nein, wie schmutzig! O, meine Herren – nein, es thut mir leid, meine Herren – in der That – aber nein, solche Stiefel – es thut mir leid um Sie, in fatto! es thut mir sehr leid, sehr!“

Das Alles im wärmsten Tone tiefinnigster moralischer Ueberzeugung! Das reine, uneigennützige, mitleidsvolle Bedauern mit einem Freunde, den man auf schlechten Wegen sieht – es kann nicht überzeugender und eindringlicher gegeben werden, als es dieser kleine Teufel thut, da er unsere Stiefeln putzen möchte „per due soldi“ (um zwei Soldi). Aber Alles hilft nichts; wir wollen unsere Stiefel durchaus nicht putzen lassen. Da, endlich, ergreift er sein letztes Mittel: mit lautem Gejohle verfolgt er uns:

„Oho, seht diese Deutschen! Dieses sind Deutsche. – Man erkennt alle Deutschen daran, daß ihre Stiefel nie geputzt sind.“

Nun, das geht uns denn doch zu nahe an unsern Nationalstolz: wir sind geschlagen und erlauben ihm lachend, unsere Stiefel zu putzen. Er putzt und erhält zwei Soldi; unsere Ehre ist gerettet, und wir können das Vaterland wieder würdig repräsentiren – was die Stiefel betrifft.

Man könnte hieraus schließen, diese kleinen menschlichen Blutegel, die nie um Mittel der Reclame verlegen sind und nie um einen Grund, einen Soldo zu erbitten, sie seien in der That mehr niederträchtige Krämer als liebenswürdige Schauspieler. Allein dieser Schluß wäre zu hart; man bedenke, daß sie meist aus directer Noth handeln; sie sind fast sämmtlich auf sich angewiesen und haben keine Eltern, die ihnen gegenüber eine Verpflichtung fühlen. Und andererseits ist es sicher, daß sie in das liebenswürdigste Gegentheil umgewandelt werden, sodald man einen wirklichen Dienst von ihnen verlangt. Ein paar Soldi oder eine Cigarre machen Jeden zum diensteifrigsten Gehülfen, zum besten Führer und zuverlässigsten Geschäftsträger. Mit angelegentlichster Sorgfalt bezüglich des kürzesten Weges führt uns Jeder, dem wir zuvor eine Cigarette anbieten, durch die Straßen, und mit komischer Grandezza entläßt er uns am Ziele mit einem pathetischen „Auf Wiedersehen, meine Herren!“ als ob er uns an die Pforten der Unterwelt hätte führen müssen und sich im Trennungsschmerze nur auf ein Wiedersehen im besseren Jenseits vertröste.

Wir führen unser Pragramm durch, und nachdem wir, vom überwältigenden ersten Eindrucke des gewaltigen Baues von S. Pietro ganz erfüllt, uns wieder in’s Freie gerettet haben, wandern wir zurück durch die volkreichen Straßen, froh, den riesengroßen, saharagleichen Platz vor St. Peter in der schattigen Colonnade Bernini’s umgangen zu haben, und froh, durch das lebhafte Treiben in den Straßen dem allzu imponirenden Eindrucke des architektonischen Weltwunders entzogen und der Alltäglichkeit näher gerückt zu werden. Mit besonderem Geschicke arbeiten an unserer Ernüchterung natürlich wiederum – die Straßenjungen, dieses verkörperte Gegengewicht gegen allzu gesteigerten Kunstenthusiasmus! Und was treiben jene Kobolde dort? Hat man je so etwas gesehen? Lieber Himmel, seit wann wird das Trottoirpflaster denn gewichst wie ein Paar Stiefel!? Ein dichter Menschenknäuel umgiebt in weitem Bogen zwei Stiefelputzerjungen, welche, etwa zehn Schritte von einander entfernt, auf dem Boden knieen und, in wahrhaft grimmiger Hast, das Trottoir mit Glanzwichse beschmieren.

Jauchzender Zuruf aus der Menge feuert jeden der beiden Wetteifernden zu erneuter Arbeitswuth an; mit vor Aufregung feuerrothen Köpfen schmieren die zwei Bengel darauf los, als gälte es, durch Wichseconsum einen Ehrenpreis im Schmier-Wettstreit zu erringen.

Was denn los sei, fragen wir einen der Umstehenden. Kaum hat er vor Interesse an dem Wettkampfe Zeit, uns zu erklären, daß dies zwei Stiefelputzer sind, von denen jeder den andern, seinen Concurrenten und Todfeind, „ruiniren“ will. – Und wodurch? Dadurch, daß jeder dem andern sein Bürsten- und Wichsekästchen entrissen hat und nun den Vorrath des Gegners auf’s Pflaster verschmiert. Welch abenteuerlicher Zweikampf! Welch aufregendes Schauspiel! Kaum ist ein Schächtelchen verschmiert, so wird wüthend in den Kasten gegriffen, ein Ruck – eine neue Dose aufgerissen, hinein mit der Bürste – und den Inhalt auf die Steine gerieben. Keuchend, schweißtriefend, in teuflischer Wuth wird gearbeitet – wieder eine Büchse leer! – „un’ altra scatola, avanti! presto!“ (noch eine Dose! vorwärts, schnell!) jauchzt die Menge umher. Auf’s neue gereizt reißt jeder eine neue Büchse heraus – den Deckel weg und losgeschmiert, daß die Patentglanzwichse umherspritzt wie die Sprengstücke einer krepirenden Granate – „bene, bene, avanti, presto!“ (bravo, bravo, drauf, drauf!) schreien die Umstehenden in ausgelassener Lust. Wieder eine Dose leer – ein blitzschneller, prüfender Blick herüber und hinüber, wie weit der Gegner voran ist mit dem Zerstörungswerk – und wieder und wieder wird geschmiert, gerieben, gebürstet, daß die Haare fliegen!

Aber jetzt ist der Wichsevorrath zu Ende; jetzt geht’s an die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_179.jpg&oldid=- (Version vom 29.11.2022)