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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

in dem Wesen des Mannes hervor, der ihr sein Angedenken nur noch theurer, seinen Verlust nur noch schmerzlicher fühlbar machen mußte.

Jetzt erst erkannte sie, was er ihr war, was sie an ihm verloren hatte; sie sollte ihn nicht mehr sehen, ihm ihre großen und kleinen Sorgen nicht mehr anvertrauen, ihre Gedanken nicht mehr mit ihm austauschen dürfen? Unentbehrlich war er ihr geworden, und nun, wo diese Erkenntniß so klar vor ihren Augen stand, nun mußte sie ihn entbehren lernen! –

„Hilda, nun doch, endlich, endlich!“ tönte es ihr entgegen. „Ich habe Dich sehnlich erwartet, wie einen Engel vom Himmel.“

Ueberrascht sah sie auf. Das Ziel, an das sie gar nicht mehr gedacht, war erreicht. Sie stand mit der alten Trine vor dem Jägerhause.

Sie traute ihren Augen kaum, als sie sah, welch günstige Veränderung mit dem kranken Bruder über Nacht vor sich gegangen war. So hatte doch der Besuch des Arztes wohlthätig gewirkt. Gestern hatte sie Wilhelm apathisch und in bedenklicher Schwäche gefunden, und heute stand er mit der Miene eines Lebensmuthigen, die Wangen frisch geröthet, vollkommen angekleidet unter der Thür des Hauses, wo er seine Cigarre rauchte und nach der Erwarteten Ausschau hielt. Dem Anschein nach war er ganz wohlauf, ja sogar heiter. Er streckte der Schwester die Hände entgegen und zog sie eilfertig in’s Haus.

„Gut, daß Du da bist!“ sagte er, die Stubenthür aufstoßend. „Hoffentlich ist alles in Ordnung.“

„Ja, ich bringe das Geld.“

„Siehst Du, ich wußte es ja – gerade ihr Ausbleiben war ein gutes Zeichen.“

Diese Worte galten Schöpf, der mit dem Jäger Halder bei Cigarren, Wein und Karten am Tische saß. Der Jäger, den der alte Schlaukopf im Laufe der letzten Tage ganz für sich gewonnen, lachte noch vor Ergötzen über das Kunststück, das sich der Meister soeben hatte absehen lassen. Hilda’s Eintritt machte der lauten Unterhaltung der Beiden ein Ende; sie erhoben sich ehrerbietig, und Schöpf ließ mit einer graziösen Taschenspielerbewegung, während er grüßte, die Karten verschwinden.

„Ah, das laß ich mir gefallen,“ sagte er mit widerlich freundlichem Grinsen. „Sehen Sie, mein Fräulein, es geht alles. Man muß nur die Daumschrauben richtig ansetzen. Die alte peinliche Gerichtsordnung war klug genug, indem sie nicht alles dem Ehrgefühl der Herren Inculpaten oder dem untrüglichen Scharfsinn der hohen Geschwornenbank anheimstellte, wie heutzutage. Unter den Daumschrauben macht man nicht so leicht einen Hokuspokus. Ich bin für die Daumschrauben.“

„Auch ich – wenigstens für die, welche man Dir anlegen würde,“ fügte Wilhelm hinzu.

„Die würden merkwürdiger Weise Dich, mein Söhnchen, am meisten drücken,“ entgegnete Schöpf und sich zu Hilda wendend, sagte er: „Wir lieben heute unsere kleinen Scherze, mein gnädiges Fräulein! Bill ist wieder bei Laune und recht gesprächig. Er hatte offenbar Witterung – ein gutes Zeichen, daß sich der alte Instinct nun wieder regt.“

„Du fühlst Dich besser?“ fragte Hilda ihren Bruder theilnehmend.

„Besser? Ganz gut! Ein Bischen Müdigkeit noch, aber das ist alles, und ich wäre, weiß Gott, schon davongegangen, säße mein Kerkermeister hier“ – er deutete auf den Taschenspieler – „mir nicht jeden Augenblick auf den Fersen. Hoffentlich werden wir nicht zeitlebens wie Galeerensclaven an einander gekettet sein. Man sagt, Niemand hasse sich tiefer als die Beiden, die solch ein zusammengeschmiedetes Paar bilden, und ich glaube daran. Ich fühle etwas davon.“

„O, sehr schmeichelhaft!“ ließ Schöpf, sich verbeugend, einfließen.

„Kein Compliment, nur die reine Wahrheit! Daß ich doch schon fort wäre! Du glaubst nicht, Hilda, wie sehr ich mich sehne, irgendwo vom A anzufangen. Ich habe mir schon etwas ausgedacht. Ich gehe zuerst – Aber nein,“ unterbrach er sich und warf seinem Schwiegervater einen mißtrauischen Blick zu, „es braucht nicht Jedermann zu wissen, wo ich gelegentlich bequem zu finden wäre. Ich werde Dir schreiben, Schwester – alles ausführlich. Ja, ich fühle neue Lebenskraft in mir, und mein Fuß ist auch wieder heil und kräftig; ich bin gesund, wie ein Fisch im Wasser, als ob unser alter Doctor Schöller an mir ein Wunder gewirkt hätte mit der Mixtur, die er hier ließ. Ich habe sie übrigens gar nicht genommen und bin doch gesund geworden. Hätte ich das Zeug getrunken, schriebe man es natürlich der ärztlichen Weisheit zu. Der gute alte Mann wird staunen. Was er für ein bedenkliches Gesicht schnitt, wie erschrocken er war! Nur von Vorsicht und großer Schonung sprach er. Ich glaube, er hätte mich trotz des Herbstes noch in ein Modebad geschickt, wenn das ein Recept für mich wäre. Aber es war eigentlich recht überflüssig und ein Bischen voreilig, Hilda, daß wir ihn in’s Vertrauen zogen.“

„Das meine ich auch,“ äußerte Schöpf mürrisch. „Man weiß nie, bei welchem Kamin es hereinraucht.“

„Nein,“ meinte Wilhelm, „Verrath droht uns von dieser Seite gewiß nicht. Höchstens daß es ihm selbst ein kaltes Fieber zuzieht. Der arme Doctor!“

„Der Henker hole ihn! Schleicht ohnehin so allerlei spürnasiges Gesindel hier umher – Horch, was ist das?“ rief Schöpf, sich plötzlich unterbrechend, mit gedämpfter Stimme und Halder ängstlich am Arme fassend. „Ist das nicht Ihr Köter, der da draußen bellt?“

„Meiner Treu!“ erwiderte der Jäger. „Ich dachte, Sie machten es selber zum Spaß.“

„Teufel auch! Gehen Sie doch hinaus und passen Sie ein wenig auf!“

Der Jäger gehorchte der Aufforderung und trat vor’s Haus. Mit den Zeichen heftigster Angst folgte ihm Schöpf bis in den Flur und horchte dort zwischen den beiden offenen Thüren.

„Wer da?“ rief Halder barsch in den Wald hinaus, da aber keine Antwort erfolgte, pfiff er seinem Dachse, der denn auch bald wieder zurückgaloppirt kam.

„Sind’s Gensd’armen?“ fragte Schöpf leise.

„Die würden wohl anders auftreten. Man sieht nichts in dem Nebel.“

Trine meinte nun auch, daß es ihr auf dem ganzen Wege schon gewesen sei, als folge ihnen Jemand.

„Ach, was wird’s gewesen sein,“ meinte Halder achselzuckend. „Ein paar Kinder, oder ein altes Weib – Holzdiebe. Jetzt geht’s auf den Winter zu. Oder Leute, die sich einen Sack voll Laub holen. War ein leichter Schritt von einem Kinderfuß, hätt’ es sonst knicken hören. Komm’, Dächsel!“

Halder wollte wieder in’s Haus zurückkehren, das war aber keineswegs nach Schöpf’s Sinn. Seine Furcht war einmal rege. Der Jäger hatte ihm selbst berichtet, daß in der Großdorfer Schänke nach ihm so eigenthümlich gefragt worden sei. Für alle Fälle konnte ein Wachtposten nicht schaden, brauchte ja doch auch kein Zeuge dabei zu sein, wenn er das Geld in Empfang nahm. Er beredete Halder also, sich’s für eine Weile draußen bequem zu machen, und auch Trine hatte von Hilda einen Wink erhalten, für’s Erste in der Küche zu bleiben.

Der kleine Zwischenfall hatte Wilhelm weniger aufgeregt als seine Schwester; denn während sie sich zitternd am Tische hielt, konnte er scherzen.

„Es scheint, daß Du ein recht ruhiges Gewissen zum Schlummerkissen hast,“ verspottete er Schöpf.

„Mir ist doch nur um Dich bange.“

„Wirklich? Sag’ dann doch wenigstens: um das Geld, das ich Dir werth bin. Auch in dieser Variation behält die zarte Besorgniß noch hinreichend Rührendes.“

„Ich denke, es wäre genug geschwätzt,“ fiel Schöpf, der sich aus den Sarkasmen Wilhelm’s ungefähr so viel wie aus dem Summen einer Fliege machte, dem Spötter in’s Wort. „Wenn es gefällig ist, mein Fräulein, so erledigen wir unsere Geschäfte. Je rascher, desto besser!“

Hilda zog das Paket hervor, das noch in demselben Zustande war, wie sie es erhalten, und legte es, ohne ein Wort zu sprechen, auf den Tisch. Wie ein Geier wollte Schöpf darüber herfallen, doch Wilhelm’s Hand kam ihm zuvor und legte sich schützend auf das Päckchen.

„Halt!“ sagte er kaustisch. „Un, deux, trois! Allez, passez! Taschenspielerfinger eignen sich nicht besonders zum Controlliren.“

Er nahm das Messer, das in dem neben der Weinflasche liegenden Brodlaib stak, und durchschnitt den Bindfaden. Das oberste Blatt, nachdem der Umschlag aus einander gefallen, war

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_170.jpg&oldid=- (Version vom 5.10.2022)