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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 11.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Meinhard wandte sich zum Gehen, aber noch ruhte seine Hand in der ihren – eine unwiderstehliche Macht hielt ihn zurück.

„Hilda!“

Wieder neigte er sich zu ihr herab; sie hob den Kopf leise empor, und diesmal berührte sein Mund nicht Hilda’s Stirn, sondern die ihm dargereichten Lippen. Es war ein inniger, ein unsäglich schmerzlicher Kuß. Dann riß er sich los; er empfand etwas, als sollte sein Herz stille stehen; er fühlte, daß er nicht länger verweilen dürfe, wenn er Herr seiner inneren Bewegung bleiben wollte – die Augen voll Thränen eilte er hinweg.

Hilda war einer Ohnmacht nahe. Sie wollte Meinhard’s Namen rufen, aber die Kraft versagte ihr. Es war als habe ein feuriger Strahl den Schleier vernichtet, der ihren Blick bisher umhüllt hatte. Selig und doch zugleich entsetzt erwachte sie wie in einer andern Welt.

Da stand alles in einer schattenlosen, blendenden Klarheit vor ihrer Seele; all ihr Denken und Empfinden, der Inhalt ihres ganzen Lebens drängte sich in einen einzigen Augenblick zusammen. Ihr eigenes Innere lag wie von einem Zauberlichte erhellt da. Ein Bild nur stand vor ihr – ein einziges. Sie wußte jetzt, daß sie Niemand auf Erden hatte, der ihr theurer war; sie wußte, daß sie mit ganzer Seele ihm gehörte, daß alle ihre Gedanken nur auf ihn gerichtet waren, daß jeder Schlag ihres Herzens zitternd nach ihm rief – – und in dem Momente, wo in ihr diese Erkenntniß aufflammte, ging er, mit dem ihr ganzes Leben seit der Kindheit unaufhörlich verflochten war; er ging, unwiderruflich von ihr getrennt durch ihre eigene Schuld.

Noch sah sie sein mildes, liebevolles Auge; noch fühlte sie seine brennenden Lippen, den Arm, der sie so leidenschaftlich umschlang. – –

„Bruno!“

Sie war allein! – allein! – –

Eine Weile war vergangen.

Hilda, von der schmerzlichen Schwere des eben Erlebten überwältigt, war in halber Bewußtlosigkeit auf’s Sopha gesunken. Ihre Gedanken hatten dämmernd zwischen Wachen und Träumen geschwebt. Da war durch den Spalt der offengebliebenen Thür Bußbuß hereingeschlichen; der verscheuchte Liebling strich zuerst leise schnurrend an der Herrin hin; dann erst, als er sich auf dem in letzter Zeit so gefährlich gewordenen Gebiete von keinerlei Angriff bedroht sah, war er zu der Ruhenden hinaufgesprungen und hatte es sich wohl gefallen lassen, daß sich ihr müder Kopf in sein zusammengerolltes weiches Fell drückte.

Heimliche Stille webte in dem traulichen Gemache.

Nun aber klopfte es plötzlich leise an’s Fenster. Es klang als flattere ein verirrter Vogel gegen die Scheiben, als suche er, halb erstarrt in der Sturmnacht, bei seinen Feinden, den Menschen, Schutz gegen das Wüthen der Elemente. Wem konnte Hilda ein Obdach gewähren? War sie nicht selbst heimathlos, ohne Freund und Hülfe?

Es klopfte noch einmal an’s Fenster – leise, ganz leise; dann ward es wieder still. Aber nein, Schritte wurden vernehmbar, und ein altes runzliges Gesicht drückte sich zaghaft an die Glasthür. Hilda erkannte Trine. Diese hielt vorsichtig Umschau in dem Raume, ehe sie eintrat, und auch dann zögerte sie noch und winkte ihrer Herrin nur verstohlen hinaus.

„Ein Wort, gnädiges Fräulein!“ flüsterte sie leise.

Erschrocken fuhr Hilda auf.

Die von den Eindrücken der jüngsten Stunden in den Hintergrund gedrängte Erinnerung erwachte wieder. Sie hatte eine Zusage einzulösen, und da stand auch schon der Bote, der sie daran mahnte – die Alte aus dem Jägerhause.

„Wilhelm!“ dachte sie bei sich.

Sie griff nach dem Paket und steckte es rasch zu sich.

„Er läßt sagen, er wolle nicht mehr warten,“ richtete Trine ihren Auftrag aus, und dann fügte sie noch die Bemerkung hinzu: „Der muß es auch eilig haben. Wird wohl Zeit sein, daß er fortkommt, aber auch der junge Herr ist ganz ungeduldig; er will mit und thut recht verwunderlich. Es wird wohl gut sein, wenn das gnädige Fräulein hinauskommen.“

„Ich bin im Augenblick bereit.“

Nur noch Hut und Plaid holte Hilda vom Ständer im Vorhause, während Trine draußen im Garten wartete, und dann machten sich Beide auf den Weg, den sie in der gewohnten Weise über die Baumhalde hin abkürzten.

Der Nebel lag noch über Feld und Wald, aber er war dünner geworden, und das gab der Natur einen eigenartigen, melancholischen Reiz – Hilda achtete nicht darauf. Eiligen Fußes schritt sie über das feuchte Gras, das ihre Schuhe streifte, und über das Wassergeriesel hinweg, welches im Walde den Pfad stellenweise fast ungangbar machte. Ihre Gedanken waren wieder bei Meinhard; mit selbstquälerischer Schärfe suchten sie jeden Zug

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_169.jpg&oldid=- (Version vom 3.10.2022)