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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

geistreicher, gemüthvoller, poetisch veranlagter Mann, beschäftigte sich nicht nur persönlich gern mit seiner jungen Gastfreundin, er lebte auch inmitten eines Kreises von Gelehrten, Dichtern und Künstlern, und obgleich die jungen Mädchen sich diesen Männern gegenüber bescheiden zurückhielten, konnte doch eine engere Berührung auch mit ihnen nicht ausbleiben. Graf Franz Pocci, der Dichter Kobell und andere bedeutende Männer verkehrten freundlich mit ihnen; Häuser, wie das des Geheimraths Thiersch, das Gärtner’sche, Kaulbach’sche, welche sie häufig besuchten, vereinigten Alles, was München damals an werthvollen, hervorragenden Persönlichkeiten besaß und was fremde Nationalitäten dorthin verpflanzt hatten. Als Amélie zum zweiten Male von München nach Bamberg zurückkehrte, brachte sie, wenn auch ohne sich darüber klar zu sein, einen Maßstab für Werth und Reichthum des Lebens mit. Die gute Musik, welche sie in der Residenz gehört, der Unterricht, welcher ihre eigenen Gesangstudien dort gefördert, ließ in ihr den Wunsch zurück, damit noch weiter zu kommen, was unter der Leitung des trefflichen Musikers Grenzebach, der damals in Bamberg Capellmeister war, erreicht wurde. Grenzebach war nun der Ansicht, daß seine Schülerin ihre Stimme für die Bühne ausbilden lassen müsse, und er ließ es an lebhaftem Zureden nicht fehlen; doch hatten weder Mutter noch Tochter Neigung zu solcher Berufswahl. Dagegen erfüllten sie gern den Wunsch des von ihnen persönlich sehr geschätzten Künstlers, daß Amélie in Concerten für mildthätige Zwecke oder in solchen berühmter Virtuosen, deren er manche bei ihnen einführte, Solopartien vortragen möge. Reizvolle musikalische Hausabende fallen in die Erinnerungen dieses Winters. Im darauffolgenden Sommer wurden Mutter und Tochter durch Verwandte bewogen, mit diesen eine Rheinfahrt zu unternehmen, und auf dieser Reise geschah es, daß Amélie den Ingenieur-Lieutenant Franz Linz kennen lernte – ein entscheidender Moment im Leben unserer Dichterin; denn im folgenden Frühjahr schon führte dieser sie als seine Gattin nach Coblenz. Wie sich seit ihrer frühen Kindheit alles sie innerlich Bewegende ihr stets zur Strophe gestaltet hatte, so entstand unter der Feder der jungen Frau in diesem Jahre Gedicht auf Gedicht, ohne je vor andere Augen zu kommen, als die es persönlich anging.

Während der folgenden Jahre wurzelte Améliens höchstes Lebensinteresse, nächst der eigenen Häuslichkeit, fortdauernd in der Musik, welcher auch Linz leidenschaftlich anhing. Beide Gatten nahmen an einem in schöner Blüthe stehenden musikalischen Verein thätigen Antheil, in Coblenz sowohl wie in Mainz, wohin, nach einer Zwischenstation in der Grenzfestung Saarlouis, Franz Linz 1850 versetzt worden.

In Mainz wurde ein nervöses Leiden, welches sich bei Amélie einstellte, ihr Veranlassung, dem Gebot des Arztes gemäß einen ganzen Sommer auf dem Lande zuzubringen. In Begleitung ihrer Mutter und ihrer drei Kinder, deren ältestes damals sechs Jahr alt war, zog Amélie in den Rheingau nach dem anmuthig gelegenen Oertchen Walluf. Da ihr Handarbeit, Lectüre und Musik zunächst verboten waren und sie ganz und gar nur mit den Kindern lebte, so kam sie auf den Einfall, Märchen auszudenken und niederzuschreiben, welche sich auf der Kinder Eigenart richteten, ihre kleinen Mängel und Unarten mit heiterer Ironie geißeln und ihnen dagegen das Ideale in kindlicher Form nahe rücken sollten. Der Versuch glückte; die Märchen wirkten und gingen den Kindern so in Fleisch und Blut über, daß sie gewisse Bezeichnungen und Namen daraus als stehende Redensarten in ihren „Kinderjargon“ aufnahmen. Um diese Zeit besuchte Amélie ein Onkel, der Buchhändler Speyer aus Arolsen; die Redensarten der Kinder fielen ihm auf, er ersuchte um Aufschluß, erbat sich die Märchenhefte und gab sie, nachdem er ihren Werth erkannt, nicht wieder zurück, sondern stellte der Verfasserin vor, sie müßten gedruckt werden. Amélien war diese Idee nie gekommen, doch gab sie ihrem Onkel freie Hand unter der Bedingung, auf dem Titelblatte nicht genannt zu werden. Fünf Verleger sandten ihm das Manuscript zurück; der sechste, Rudolf Chelius in Stuttgart, behielt es, zahlte ein hübsches Honorar und stattete die „Märchen, von einer Mutter erdacht“, gut aus. Als nach ein und einem halben Jahre die zweite Auflage gedruckt ward, bat der Verleger um die Wahl eines beliebigen Autornamens, „der Kataloge wegen“, wie er schrieb, und Frau Linz wählte den Familiennamen ihrer Mutter – Godin – welcher seither ihr Autorname geblieben.

Der unverhoffte Erfolg weckte die Lust, sich auch in der Novelle zu versuchen. Verschiedene Zeitschriften brachten Godin’sche Erzählungen. Dann erschien im Jahre 1862 Améliens erster Roman: „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ (Breslau, Trewendt). Bis dahin war es der Dichterin geglückt, die persönliche Anonymität so fest zu halten, daß außer ihrem Gatten und ihrer Mutter Niemand von ihrer Thätigkeit erfuhr. Wie ihr Geheimniß bald nach Erscheinen dieses Buches unter die Leute kam, ist wohl schwer festzustellen, doch so viel steht fest: es ist gerade durch diesen ihren ersten Roman der richtige Name der Verfasserin bekannt geworden.

Die lebhafte Phantasie unserer Autorin schloß bei Abfassung ihrer Märchen einen wohlthuenden Bund mit den Eingebungen eines reichen Herzenslebens und wurde zugleich durch die in’s Auge gefaßten pädagogischen Ziele zwanglos in bestimmte Grenzen verwiesen. Rückblicke in die eigene glücklich verlebte Jugendzeit und ernste, hingebende Beobachtung ihrer sie umspielenden jugendlichen Genossen boten ihr geeignete Stoffe in unerschöpflicher Fülle, und ihr in das räthselhaft tiefe Leben und Streben der Kinderwelt ganz aufgehendes Sein und Empfinden ließ sie auch den für ihre Stoffe und für den Verkehr mit Kindern richtigen Ton mit Leichtigkeit treffen.

Aber diesen Erinnerungen einer frohen Jugend schlossen sich solche ernsterer, späterer Jahre an. Beim Beobachten ihrer Kinder streifte der Blick Améliens nicht selten an ihnen vorüber, und wie das Leben der Kinder selbst, so bot auch die Umgebung derselben mannigfache Reize, viele und tiefe Räthsel. Die vielgestaltigen Erscheinungen des Lebens zu erfassen, die Räthsel desselben zu lösen, das Erkannte sich dauernd zu eigen zu machen und zu lebensvollen Bildern auf’s Neue zu gestalten, wurde das Streben des in der jungen Schriftstellerin sich zu immer höherem Fluge entfaltenden Dichtergeistes.

Ihr ernstes Mühen nach Erweiterung ihres Gesichtskreises offenbart sich in den Erzählungen: „An der reißenden Wand“ (1850), „St. Maximin“ (1860), „Arnold Nobeling“ (1860), „Das Leben einer Frau“ (1861); es läßt sich auch in ihrem ersten größeren Werke, dem oben erwähnten Roman „Eine Katastrophe und ihre Folgen“ nicht verkennen. Während aber die Verfasserin in den ersten Erzählungen ihrer Selbstständigkeit noch wenig vertraut und deshalb zumeist an geschichtliche Thatsachen sich anlehnt, ist die „Katastrophe“ durchaus ein Product freier, eigener Erfindung, und während in den geschichtlichen Bearbeitungen die individuellen Anschauungen der Verfasserin durch den Zwang des Ueberlieferten fast gänzlich unterdrückt werden, gelangen in diesem Romane gerade die letzteren zur Geltung, wovon auch schon das demselben als Motto vorangestellte Wort Otto Ludwig’s Zeugniß ablegt: „Was die Menschen Glück und Unglück nennen, ist nur der rohe Stoff dazu; am Menschen liegt’s, wozu er ihn formt“.

Die Gatten hatten inzwischen den Rhein mit dem Norden vertauscht; sie lebten seit 1857 in Stettin und einige Jahre in Stralsund. Dieser stete Wechsel von Land und Leuten erweiterte die geistigen Gesichtspunkte unserer Dichterin; er vermehrte ihre Kenntniß von Welt und Menschen, Sitten und Anschauungen in rapider Weise, aber die mehr und mehr heranwachsenden Kinder, deren Erziehung bei dem Uebermaß dienstlicher Beschäftigung des Vaters zum größeren Theile der Mutter zufiel, sowie gesellschaftliche Verpflichtungen, die sich von der Stellung des Gatten nicht trennen ließen, nahmen die Zeit der gewissenhaften Frau so sehr in Anspruch, daß für Musik und Poesie nur vereinzelte, aber um so höher geschätzte Stunden übrig blieben. Ein paar neue Märchenbücher, einige Novellen entstanden in ziemlich großen Pausen, und manches Anregende mußte still bei Seite gelegt werden. So interessirte sich Frau Amélie von jeher lebhaft für Volkssagen und hatte nie die Gelegenheiten versäumt, denselben bei alten Mütterchen auf dem Lande und in alten Chroniken nachzuspüren. Besonders viel Anregendes dieses Schlages fand sich in Stralsund, was die Chronik, und auf der Insel Rügen, was die Sage betraf. Dort, wo Frau Linz oft verweilte, sammelte sie Vieles aus dem Munde der Fischer, Lootsen etc., die, wenn ihr anfängliches Zurückhalten überwunden ist, sich bekanntlich leichter und ausgiebiger äußern, als unser süddeutsches Landvolk. Das so Gesammelte zu vereinigen, fehlte es ihr aber an Zeit und Concentrirung; es wurde daher wieder einzeln ausgestreut. Was der Dichterin indeß aus jenen Tagen übrig blieb, war neugestärktes Interesse für das Leben und Regen des überall so charakteristischen Volkes.

Schwere Sorgen zogen vom Jahre 1865 an einen Strich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_160.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)