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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

No. 9.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Der heimliche Gast.
Erzählung von Robert Byr.
(Fortsetzung.)


Hilda hatte ihren Bruder allein in seinem Arbeitszimmer vermuthet; denn es war noch gestern davon die Rede gewesen, daß sich außer ihm und Edwin Alle an der Ausfahrt betheiligen wollten – und nun? Hinter der dunklen Portière, die den Eingang zum Arbeitszimmer des Gutsherrn nur halb schloß, saß in dem zarten Dämmerlichte, das ihrer Schönheit einen besondern Glanz lieh, die junge Frau an einem Nähtischchen, das sie sich in der Fensternische improvisirt hatte. Scherzend wehrte sie sich mit der Sticknadel gegen ihren Gatten, der hinter ihrem Stuhle stand und ihr die Augen zuhielt.

„Hände weg oder ich steche!“ drohte sie lachend.

„Ein Attentat? Oho! Verdient eine exemplarische Strafe.“

„Die fürcht’ ich nicht.“

„Auflehnung, Meuterei, Rebellion gegen die Autorität!“

„Die Ehrfurcht vor derselben ist nicht mehr groß; Du thust Dein Möglichstes, sie zu zerstören, mein Herr Gemahl.“

„Will doch sehen, ob ich keinen Gehorsam finde,“ erklärte er mit scherzhaft angenommener Würde. „Ich dulde nicht, daß Du Deine Augen an der Geburtstagsarbeit für die Frau Mama in dieser Finsterniß verdirbst; denn Deine Augen gehören mir – heute und alle Zeit. Ich kann sie, so oft es mir gefällt, amtlich unter Siegel legen, und sie müssen geschlossen bleiben, bis –“

„Bis ich sie wieder aufthue.“

„Nein, bis ich das Siegel mit einem Kusse löse.“

Er neigte sich zum Vollzuge der angekündigten Maßregel über sie, aber sie hatte den Moment, wo er seine Hände löste, benutzt, um vom Stuhle aufzuspringen.

„O, es bedarf keiner solch feierlichen Amtshandlung, mein gestrenger Herr. Ich sehe schon wieder,“ spottete sie. „Und nun laß mich die paar Stiche fertig machen – nur so weit der Wollfaden noch reicht!“

„Gut, wie Du mir, so ich Dir!“ sagte er und setzte sich, ohne scheinbar weiter auf seine Frau zu achten, auf das Fensterbrett; er zog ein Journal aus der Tasche, entfaltete es und begann zu lesen.

„Diese häßlichen Zeitungen!“ schmollte sie und schlug leicht auf das Blatt.

„Diese häßlichen Zeitungen?“ fragte er. „Ich muß doch eine Beschäftigung haben. Wie erfahre ich übrigens ohne die Zeitungen, was in der Welt vorgeht?“

„Bah, es steht doch kein wahres Wort darin. Nichts als Märchen; die kann ich am Ende auch erzählen.“

„Willst Du? Ach ja, Du bist meine Scheherazade. Erzähle!“

Schmeichelnd hatte er den Arm um sie gelegt, und so zog er sie, während er sich selbst auf den vorher von ihr eingenommenen Sessel niederließ, sanft auf sein Knie. Sie ließ ihn im Eifer, doch noch ein paar Stiche zu vollenden, gewähren und setzte ihm auch keinen Widerstand mehr entgegen, als er ihr die Stickerei nun aus den Händen nahm.

„Confiscirt!“ sagte er. „Zwei Herren kann man nicht dienen. Man arbeitet nicht, wenn man ein Märchen zu erzählen hat.“

„Ist das wirklich Dein Ernst?“

„Natürlich!“

„Ich weiß aber eigentlich nur eins.“

„Du hast Dich ja vermessen, so viele wie die Zeitungen zu kennen. Also mindestens für tausend und eine Nacht. Laß denn hören!“

Sie schlug die Augen, schelmisch lächelnd, zu ihm auf.

„Gut – es war einmal eine Prinzessin, die saß an einem Brunnen im grünen, grünen Walde. Da kam ein stolzer König; der trug an einem schweren Leide, und die Aerzte hatten ihn darum zu dem Brunnen geschickt, daß er sich Heilung hole. Und als er wieder ging, da war er wohl gesund, aber die Prinzessin, die arme Prinzessin, war krank geworden im Herzen und blickte nur immer und immer in den Brunnen, weil er ihr, wie im Spiegel, das Bild des stolzen Königs zeigte, so oft sie seinen Namen rief.“

„Und das war ein sehr wirksames Sympathiemittel,“ fiel er lachend ein. „Denn eines Tages kam er, holte sie heim und war glücklich mit ihr bis an’s Ende ihrer Tage. Und Franz hieß der stolze König, und die Prinzessin hieß Albertine. O, ich kenne, wie mir scheinen will, dieses Märchen – Du mein herziges, herziges Weib!“

Er küßte sie innig. Ihr Arm legte sich um seine Schultern, ihre Schläfe sich an die seine.

„Franz,“ sagte sie, „ich habe Dich so lieb, so lieb, so lieb!“

Die Lauscherin dort hinter der Portière hörte es nicht mehr. Die Hände auf das Herz gepreßt, als ließe sich so dessen lautes Pochen bezwingen, glitt Hilda von der Thür hinweg und aus dem Garderobezimmer. Die Scham brannte auf ihren Wangen, daß sie ihr Versteck nicht schon früher verlassen, aber es war nicht diese Gluth allein, die sie verwirrte. Zuerst hatte sie, unmuthig über die Störung, nur einen Moment zum Eintreten abwarten wollen, der ergab sich jedoch nicht, und so hatte sie fast wider

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_137.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2021)