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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

hättest Du,“ verbesserte sie sich schnell, „eine traurige Jugend gehabt und nicht die Erziehung genossen, die ich Dir verschaffen konnte, indem ich weniger auf die Stimme des Herzens als auf die des Verstandes hörte und mich entschloß, in eine niedere Region herabzusteigen. Ich will nicht sagen, daß mein zweiter Gatte nicht einer ganz guten alten Partricier –“

„‚Patricierfamilie‘ heißt es, Mama, aber, bitte, laß den seligen quiescirten Bäckermeister diesmal ruhig in seinem Grabe bis zur nächsten Citation – bei mir verfehlt sie ja doch den Eindruck.“

Frau Rohrwek räusperte sich und fuhr sich mit dem Tuche über die Augen – sie war ja gewohnt, ihre Gemüthsbewegung an dieser Stelle ihrer Lieblingserzählung derartig anzudeuten – dann bequemte sie sich aber doch den pietätlosen Unterbrechungen und hielt sich an eine mehr praktische Begründung ihres Vorschlags.

„Du weißt, daß Rohrwek alles seiner Tochter vermacht hat, und daß mir nur die Nutznießung des Hauses in Schönau auf Lebenszeit verbleibt. So lange ich da bin, kann ich Dir unter die Arme greifen; ich werde von nun an den größten Theil des Jahres in Waltershofen bleiben, um zu sparen, aber wenn ich sterbe –“

„Aber, Mama! Solche Rühreffecte werden nicht geduldet.“

„Meine Krämpfe – ich kann von heut’ auf morgen –“

„All die Leiden los werden, Mama, wenn Du nur den Willen dazu hast. Erkläre Dich selbst für gesund! Nein, nicht weinen, Mama! Ich verspreche Dir, mein Möglichstes zu thun. Schnell die Thränen weg, ehe die Andern sie sehen!“

Er sprang auf und trat mit einem heiteren Wort den Zurückkehrenden entgegen. Franz war noch in eifrigen Erläuterungen seiner Pläne begriffen, und Meinhard hörte ihm aufmerksam zu, die Damen aber hatten sich längst aus dem gar zu tief in’s Technische gerathenen Gespräche gezogen.

„Du hier, Mama?“ fragte die junge Frau erstaunt, „ich vermuthete Dich zu Deiner gewohnten Siesta auf Deinem Zimmer.“

„Ach, das Treppensteigen! Es strengt mich wirklich zu sehr an. Für eine alte Frau ist das eine zu harte Zumuthung.“

„Dann hättest Du mein Anerbieten annehmen sollen, als ich mich als Sänftenträger verdingen wollte,“ scherzte Edwin, doch Franz, der die Bemerkung seiner Schwiegermutter nicht überhört hatte, unterbrach seine an Meinhard gerichteten Auseinandersetzungen und trat mit einer Entschuldigung zu Frau Rohrwek.

So konnte sich Meinhard endlich Hilda nähern, welche damit beschäftigt war, um einige kaum erblühte Herbstrosen einen Seidenfaden zu schlingen. Edwin hatte sie eben gefragt, für welchen Glücklichen die Göttin Flora denn ihre heiteren Kinder bestimmt habe, und von Hilda’s sanft lächelnden Lippen die Antwort erhalten, sie habe von der Himmlischen darüber keine bestimmte Anweisung erhalten; darauf nannte er sie in einem nicht viel originelleren Complimente grausam, weil sie ihre eigenen Schwestern fessele, und rief schließlich Meinhard zum Zeugen der Richtigkeit des ebenso ruhig abgewiesenen Vergleiches auf.

„Ich finde ihn vollkommen – unzutreffend,“ erklärte Meinhard mit einer ihm sonst fremden Schroffheit. „Diese Rosen sind frisch; Sie selbst nannten sie heitere Kinder Flora’s, Eigenschaften, die ich bei Fräulein Hilda heute vermisse.“

„Wie ungalant!“ entsetzte sich Edwin. Hilda dagegen schien diese Aufrichtigkeit durchaus nicht übel zu nehmen. Sie wehrte sich dagegen nicht, wie gegen die Schmeichelei Edwin’s, und hob ihren Blick ernst zu dem alten Freunde empor, der in ihren Augen aufmerksam zu lesen suchte.

„Sind Sie krank?“ fragte er.

„Ich will Ihnen sagen, Onkel Meinhard, was Tantchen hat,“ machte sich Mimi, die ihre Polka abgebrochen hatte, plötzlich lachend in die Unterhaltung. „Sie ist müde, weil sie nicht ausgeschlafen hat.“

„Mimi!“

„O, ich lasse mir den Mund nicht verbieten, Tantchen. Vertraut man mir etwas, schweige ich. Aber mache ich meine Entdeckungen, kann ich verrathen, so viel ich will. O, ich habe es heute früh ganz genau gehört, wie es in Deinem Schlafzimmer huschte und raschelte. Es war noch ganz dämmerig, ich denke nicht einmal halb Sechs, und im ersten Moment hatte ich solche Furcht, daß ich mit dem Kopfe schnell wieder unter die Decke fuhr. Ich fürchte mich nicht vor Gespenstern – aber es war zu unheimlich; dann habe ich mich doch besonnen, und als ich zu Dir hinüberschlich, da fand ich Dein Bett leer und das Schränkchen, in welchem Du Deine Hausapotheke hast – offen. Siehst Du, Tantchen, so kommt man hinter Deine Geheimnisse!“ Sie umschlang Hilda und legte ihr das Kinn auf die Schulter. „Aber es ist kein Wunder: wenn man so früh aufsteht, ist man den ganzen Tag schläfrig. Ich – ich habe dann bis zum Frühstück noch prächtig geträumt. O, so prächtig!“

Es blieb unentschieden, ob der Kuß, den sie flüchtig auf Hilda’s Wange drückte, mit dieser abgebrochenen Schilderung in Zusammenhang stand oder nur eine Abbitte für die Indiscretion sein sollte, die eine tiefere Verlegenheit hervorgerufen hatte, als der kleine Schalk hätte voraus sagen können.

Hilda war wie vom Schreck gelähmt. Zum Glück war der Farbenwechsel auf ihren Wangen Allen entgangen, außer der jungen Frau, und diese deutete die Zeichen anders.

„Du schämst Dich doch nicht Deines Samariterganges?“ sagte sie freundlich. „Wir sind es, die Du beschämst. Du mußt mich in Zukunft an Deinen Krankenbesuchen theilnehmen lassen.“

„Ist die alte Kolbenhäuslerin wieder bettlägerig geworden?“ fragte der Hausherr, aber es war Hilda unmöglich, zu antworten. Nun entspann sich eine Erörterung der Frage des Laienbesuchs in Lazarethen oder in den Hütten der Armuth, welche den Fall in’s Allgemeine zog. Herr von Reinach bestritt den Nutzen solchen Eindrängens in eine fremde Sphäre, in die man nur Störung bringe. Dagegen trat Edwin als Vertheidiger Hilda’s auf, die sich selbst nicht an der Debatte betheiligte. Er führte alsbald das große Wort wie immer.

„Gern will ich zugeben,“ fuhr er fort zu reden, „daß da die Individualität nicht übersehen werden darf; oft ist es ein rein körperlicher Widerwille, der gerade manche feiner organisirte Natur für solche Annäherung an die Häßlichleit des menschlichen Gebrechens unfähig macht – denn häßlich ist es – sage selbst, Franz! – und auch die Damen werden es sicherlich zugeben.“

„Man könnte vielleicht –“ warf Meinhard ein, brach aber sofort kurz ab, da Edwin bereits wieder fortfuhr:

„Ein hohes Verdienst,“ sagte er, „gewiß! ein unschätzbares Verdienst – die Privatkrankenpflege! Es giebt noch viel des Elends in der Welt, und schön muß es sein, als ein Bote des Erbarmens und der Liebe an den verwahrlosten Stätten des Unglücks einzukehren. Sagen Sie selbst, Herr Statthaltereirath, ob das nicht eine beseligende Empfindung sein muß! Wer empfände den edlen Drang nicht in sich selbst! Glücklich, wer ihm ungehindert folgen darf! Aber Sie antworten ja gar nicht! Ich glaube, Sie wollten etwas einwenden.“

„Nicht doch!“ entgegnete Meinhard ruhig, aber verstimmt. „Ich möchte höchstens bemerken, daß man nur fragen soll, wenn man auch die Antwort zu hören geneigt ist.“

„Das ist auch meine Ansicht. Man soll die fremde Ueberzeugung anhören, um sich ihr zu beugen oder sie zu widerlegen.“

„O, man kann sie auch überschreien; das ist in unserer Zeit sogar ein sehr probates Mittel,“ versetzte Meinhard, diesmal in leichterem, mehr scherzhaft–ironischem Tone. Aber dies verwischte nicht ganz den Eindruck seiner früheren Worte. – –

„Sind Sie nicht ein Bischen ungerecht gewesen?“ fragte ihn später Hilda. Die scharfe Zurechtweisung Edwin’s hatte in dem kleinen Kreise ein momentanes Verstummen herbeigeführt, über das erst der Hausherr wieder hinweghalf.




6.

Frühzeitiger, als der alte Sonntagsbrauch feststellte, kam es zur Verabschiedung. Meinhard schützte Arbeit vor, und da er zu Fuß zur Stadt zurückkehren wollte und der Abend schön war, erbot sich Franz ihn zu begleiten; auch die Andern schlossen sich auf seine Aufforderung an; nur seine Frau blieb diesmal bei ihrer Mutter zurück. Da er ihr aber noch etwas zu sagen hatte, zögerte er ein wenig mit Edwin und Mimi, die ihn am Thore erwarteten, während Hilda, in ihren Capuchon gehüllt, mit Meinhard vorausgegangen war.

Sie waren schon eine ganze Weile in dem stillen Abenddunkel dahingeschritten, die zarte Sichel des Mondes wie einen freundlichen Begleiter zur Seite, als Meinhard die auf seinem Arme ruhende kleine Hand faßte und, statt das zuvor entschlummerte Gespräch wieder aufzunehmen, sich näher zu Hilda herabneigte und fragte, was ihr sei.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_091.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)