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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

großer Selbstverleugnung, um ihren Kindern ihr Vermögen zu erhalten, das im Fall eines Geständnisses und einer dann natürlich nicht ausbleibenden Verurtheilung confiscirt worden wäre. Diese grausame Marter wurde erst 1770 abgeschafft.

Die Lage der Gefangenen blieb lange Zeit hindurch die alte erbarmungswürdige, und zwar trotz aller testamentarischen Legate von Menschenfreunden; Newgate war und blieb eine Stätte des Lasters, ein Herd ansteckender Krankheiten. Man sagt, daß die Hälfte aller in London begangenen Verbrechen innerhalb der Mauern von Newgate geplant wurde.

Seit einigen Jahrzehnten sind dort freilich sehr viele Verbesserungen in den sanitären wie in allen übrigen Vorrichtungen eingeführt worden; sie sind zum großen Theil den Bemühungen der Menschenfreundin Mrs. Fry zu verdanken, die im Jahre 1838 schreckliche Mittheilungen über die menschenunwürdige Behandlung der Gefangenen veröffentlichte. Aber beim besten Willen wäre es in diesem alten Gebäude nicht möglich gewesen, den Anforderungen des Zeitgeistes vollkommen zu entsprechen, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, den ebenso alten wie berüchtigten Kerker von Newgate aufzuheben und soeben, in den letzten Tagen des Januarmonates, hat sich die Räumung desselben vollzogen; bald wird man mit der Abtragung des Gebäudes beginnen, und damit wird London um ein interessantes, wenn auch grauenerregendes historisches Denkmal ärmer sein.

In der City liegend, stand das berüchtigte Gefängniß zu allen Zeiten unter der Oberhoheit des Lordmayors und der City-Rathsversammlung, und die alljährlich gewählten Sheriffs (eine Art Vicebürgermeister) mußten bis zum Jahre 1877 unter anderen Eiden auch einen leisten, der dahin ging, daß sie sich nie unterfangen würden, das Gefängniß von Newgate zu verpachten. In dem letztgenannten Jahre jedoch schuf das Parlament ein Gesetz, durch welches Newgate dem Ministerium des Innern, das auch das Justizressort verwaltet, unterstellt wurde. Seither war man schlüssig, diesem Kerker den Garaus zu machen.

Als wir Anfangs dieses Monates die Ankündigung von der nahe bevorstehenden Aufhebung des Gefängnisses zu Newgate lasen, beeilten wir uns, den Lordmayor um eine Besichtigungsanweisung zu bitten, denn eine solche konnte man nur von dem Oberhaupte der Cityverwaltung oder von dem Minister des Innern erhalten. Wir erhielten die Erlaubniß sofort und machten uns schleunigst auf den Weg, um von derselben Gebrauch zu machen. An der einzigen und zwar recht kleinen und stark vergitterten Thür des Gebäudes zogen wir eine Glocke; ein blau uniformirter Hausbeamter öffnete uns, hieß uns die drei schmalen Treppen hinansteigen und nahm uns die schriftliche Erlaubniß des Lordmayors und unseren Regenschirm ab. Sodann führte er uns durch das Bureau des Gefängnißdirectors Sydney Smith in ein Vorzimmer, wo uns der Oberaufseher von Newgate, dem die Aufgabe zufiel, uns durch sämmtliche Räumlichkeiten dieses ernsten Hauses zu geleiten, in Empfang nahm.

Das Gebäude ist ein wahres Labyrinth, wie es die moderne Gefängniß-Architektur nicht herstellen würde. Es besteht aus einer Unzahl von Gängen, Höfen, Corridoren, Treppen, Verschlägen etc.; in diesem Gewirre könnte sich kein Verbrecher, der zu entweichen versuchen wollte, zurechtfinden. Ueberdies sind die Mauern sehr hoch, und die Höfe haben eine Bedachung in Form einer starken Obervergitterung. Dazu kommt noch, daß nur eiserne Gitter oder dicke, auf beiden Seiten mit Eisenplatten und Eisenstangen beschlagene eichene Thüren die einzelnen Räumlichkeiten mit einander verbinden.

An ein Entweichen ist hier also nicht zu denken. Die ungeheuer dicken Mauern bestehen aus Quadern, gebrannten Ziegeln und Eisenklammern, während die Fußböden der Höfe aus Asphalt oder Holz mit Eisenplatten hergestellt sind. Kurz, Newgate dürfte, wie schon angedeutet, das ausbruchsicherste Gefängniß der Welt sein. Die Höfe sind zumeist kurz und schmal, doch mangelt es nirgends an Licht und Luft, und die Düsterkeit, die das Gebäude von außen an den Tag legt, ist im Innern weit geringer.

Einer der Höfe ist der Spazierhof; er ist glatt und kahl; seine Mauern sind sehr hoch; sein Fußboden besteht aus abwechslungslosem Asphalt. Zwei andere Höfe sind für den Empfang von Besuchen seitens der Häftlinge eingerichtet, und in jedem dieser beiden Höfe befindet sich ein sechs Schuh tiefes Eisendrahtgeflecht, das in drei Abtheilungen zerfällt; die eine ist für den Besucher, die andere für den Häftling bestimmt, die mittlere für einen Gefängnißbeamten, der den Gefangenen und sein Gespräch zu überwachen hat. Natürlich sind die Häftlinge und ihre Verwandten oder Freunde in Folge dieser Vorrichtung außer Stande, einander die Hände zu reichen, geschweige denn einander etwas zuzustecken, höchstens können sie einander zur Noth sehen. Ein anderer, nur wenige Fuß breiter Hof birgt unter seinen Steinplatten die mit Aetzkalk gefüllten Särge der Hingerichteten von Newgate; an der einen Wand sieht man die Anfangsbuchstaben der Familiennamen der hier begrabenen Verbrecher der Reihenfolge ihrer Eingrabung nach eingehauen.

Aber betrachten wir das Innere des Gefängnisses, und zwar zunächst den eigentlichen Kerkerraum! Wir gelangen in einen Corridor, wo wir zwei neben einander liegende Zimmerchen erblicken. Hierher werden die Gefangenen gebracht, wenn sie sich mit ihren Vertheidigern besprechen wollen; hier kann Niemand sie hören, Niemand sie stören, Niemand auf den Gang der Gerechtigkeit einen ungebührlichen Einfluß üben. Die Möblirung ist sehr einfach: ein Tischchen, an dem der Sachwalter sich Notizen machen kann, und zwei kurze, mit Leder gepolsterte Bänke zum Sitzen. Sodann kommen wir in die Gefängnißküche, wo ein Koch gerade beschäftigt ist, das Mittagessen in drei großen Kesseln zu bereiten. Die Häftlinge dürfen sich, wenn es ihre Mittel erlauben, mit eigener Kost versehen; aber auch diejenigen, die sich nicht selbst verköstigen, werden gut versorgt. Dreimal täglich wird ihnen eine Kost gereicht, die hauptsächlich aus Suppe, Fleisch, Gemüse, Brod und Grütze besteht. Die Messer, die ihnen zum Zerschneiden des Fleisches überlassen werden, sind so stumpf, daß es unmöglich wäre, sich mit denselben eine Verletzung beizubringen.

Ein nachdenklich stimmendes Gemach ist die Gefängnißcapelle, in der täglich um 8¾ Uhr Morgens ein Gottesdienst abgehalten wird. Die Männer, die unten sitzen, und die Weiber, die auf den Gallerien Platz nehmen, können einander nicht sehen. Auch giebt es hier, und zwar unmittelbar vor dem Hochaltar, eine „Condemned bench“, das heißt eine Bank, auf der die zum Tode verurtheilten Insassen des Kerkers sitzen. In London leben Leute, die sich noch erinnern, auf dieser Bank zu gleicher Zeit nicht weniger als einundzwanzig Personen sitzen gesehen zu haben; es war dies zu der noch Manchem erinnerlichen Zeit, da der Diebstahl eines Taschentuches mit dem Tode durch den Strang bestraft wurde. Der beliebte Prediger Dr. Dodd, der Erzieher des jungen Lord Chesterfield, für den die berühmten „Briefe an meinen Sohn“ geschrieben wurden, hielt in dieser Capelle im Jahre 1777 seine eigene Grabrede, ehe er wegen einer Fälschung gehenkt wurde.

Jetzt werden wir in ein kleines, schmales Cabinet geführt, das uns in seiner Bestimmung an die wohlbekannte „Schreckenskammer“ in dem weltberühmten Wachsfigurencabinet der Madame Tussaud[WS 1] in der Londoner Bakerstreet erinnert. Wir erblicken auf einem Schranke Wachsnachbildungen von Verbrecherköpfen, deren frühere Träger auf dem Platze vor dem Criminalgericht gehenkt wurden, darunter eine Reihe der berüchtigtesten Mörder, Giftmischer und Raubmörder, von denen in den blätterreichen Annalen der englischen Criminalgeschichte zu lesen ist. Schon früher hatte man solche Wachsköpfe nur anfertigen lassen, wenn der der Hinrichtung in amtlicher Eigenschaft beiwohnende Sheriff es wünschte; seit 1867 hat man davon gänzlich Abstand genommen. Nicht minder unangenehm, als die Gedanken, denen man hier nachhängen muß, sind diejenigen, denen man sich unwillkürlich hingiebt, wenn man das „Fesseln-Museum“ besichtigt. Dieses ist in einem Zimmer untergebracht, das einst eine Küche war, jetzt aber den Beamten als Wärmstube dient. An der den Fenster gegenüberliegenden Wand steht ein großer Kasten, in welchem die Ketten aufbewahrt werden, mit denen man die Gefangenen, wenn diese Disciplinarstrafe über sie verhängt wird, an die Wand schließt; ferner befinden sich dort die Fesseleisen, mit denen den Häftlingen während ihrer Ueberführung in ein Strafgefängniß oder auf der Reise Hände und Füße in Schach gehalten werden, endlich der von dem Vorgänger des jetzigen Gefängnißdirectors erfundene Riemen, der den Delinquenten bei der Hinrichtung Hände, Füße und Leib so fesselt, daß ein Zappeln oder ein Ausschlagen unmöglich wird.

In demselben Zimmer befindet sich die Prügelmaschine, mit deren Hülfe die „Garrotters“ bestraft wurden. Diese waren gefährliche Straßenräuber, welche in den sechsziger Jahren in London ihr Unwesen trieben und sich dadurch auszeichneten, daß sie

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Tussand
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_087.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)