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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

die dem Schlosse entgegengesetzte Richtung ein. Mittlerweile war das gelbe, verrunzelte Gesicht der Haushälterin in der Thürspalte zum Vorschein gekommen.

„Nun, Trine, wollen Sie mich nicht ein wenig unter Dach lassen? Das Wetter heute ist nicht sehr einladend für einen Aufenthalt im Freien.“

Die Alte antwortete mit einem lebhaften Nicken und Grinsen.

„Gelobt sei Jesus Christus! So hat er’s doch recht ausgerichtet – ist sonst ein braver Mann, aber wie’s die Jungen alle haben – will alles besser wissen,“ murmelte der zahnlose Mund der Alten.

„Und wie geht’s Ihnen, Trine? Immer noch frisch auf den Füßen.“

„Ja, du mein Gott, zu Kirchweih tanz’ ich freilich nimmer. Und die Augen sind auch schlecht, aber soweit sehen sie doch noch, ob Einer ein schlechtes Gewissen hat oder nicht, wenn auch die Anderen nichts von ihm wissen wollen. Hat Manchem schon das Elend das Herz abgefressen, der’s besser hätte haben können. Müßt’ Einer hart sein, wie ein Stein, der mit solchem Jammer kein Erbarmen hätt’, und ich sag’ Jedem die Wahrheit gerade in’s Gesicht, mag er auch noch so ein großer Herr sein. Ich fürchte mich nicht. Sollen mich nur fortjagen!“

„Es denkt ja Niemand daran,“ suchte Hilda die Eifernde zu trösten, deren verwirrte Reden sie nur mit Mühe zu verstehen vermochte; sie legte die Hand auf die Klinke zum Wohnzimmer, das auf der rechten Seite des schmalen Flurs, der Küche gegenüber, lag. Als jedoch die Alte sich nicht beschwichtigen ließ, sondern in ihrem vorwurfsvollen Gemurmel fortfuhr und dann sogar von einem Recht sprach, das Einer habe dort aufgenommen zu werden, wohin er nun einmal gehöre, da wurde Hilda doch aufmerksamer und fragte verwundert: „Wer?“

Ueber das kurze Wörtchen kam sie aber nicht hinaus; denn mittlerweile hatte die Thür dem Drucke nachgegeben, und Hilda’s Blick fiel auf ein Bild, das ihre Zunge, wie ihren Fuß lähmte.

In der Ecke hinter dem schwerbeinigen Tische saß eine bleiche abgezehrte Gestalt, ein rothgewürfeltes Kissen unter den an die Wand zurückgelegten Kopf geschoben, mit geschlossenen Augen wie ein Todter.

„Eine wunderbare Aehnlichkeit!“ dachte Hilda, und eine dunkle Ahnung, die ihr Herz schneller klopfen ließ, stieg in ihr auf. Das dünne verwirrte Haar auf der bleichen Stirn des Kranken, die halb geöffneten, farblosen Lippen zwischen dem vernachlässigten Bart und dazu die hagere abgezehrte Gestalt – dies alles gab in dem matten Lichte, das durch die kleinen Fenster in die Stube fiel, ein erschreckendes Bild, das diese unheimliche Aehnlichkeit nur noch vermehrte.

„Er ist wieder eingeschlafen,“ erläuterte Trine mit gedämpfter Stimme. „Wenn man so matt wie eine Fliege ist, sollte man im Bette bleiben. Eigensinnig wie alles Mannsvolk!“

Noch immer blickte Hilda, die selber so bleich wie eine Sterbende geworden war, auf den Regungslosen, aber ihr war nicht, als ob sie eine Leiche, nein, als ob sie ein Gespenst schaute. Langsam wendete sich ihr Blick der Alten zu, und als ob sie noch in Zweifel sein könnte, fragte sie tonlos.

„Er?“

„Ja, ja,“ nickte Trine, und es war etwas wie eine unverhohlene, selbstzufriedene Genugthuung in ihrem herben Lächeln. „So hat’s ihn zugerichtet. Aber zu kennen ist er schon noch; man muß nur recht hinsehen.“

Hilda mußte sich an den Thürpfosten lehnen, aber die Schwäche-Anwandlung, die sie überkam, dauerte nicht eine Secunde. Der Schlummernde war aufgewacht; er wendete den Kopf, öffnete die Lider und richtete die dunkeln tief eingesunkenen Augen auf Hilda. Noch eine ganz kurze Weile schwieg er; dann bewegten sich auch seine Lippen.

„So, so,“ sagte er müde und fast gleichgültig, „bist Du da?“

Er machte dazu keine Bewegung, um sich von der Bank zu erheben; nur seine Hand hob sich ein wenig und fiel dann kraftlos wieder auf die Tischplatte zurück.

„Und gegessen hat er fast gar nichts und brauchte es doch so sehr,“ klagte die Alte.

Jetzt hatte Hilda sich ermannt. Sie trat ein paar Schritte vor in das Zimmer, aber mit dem Schreck war auch das Mitleid aus ihrem Blicke gewichen; ihr Antlitz zeigte eher einen grollenden Ausdruck, und ihre Stimme klang gezwungen ruhig und kühl, als sie sagte:

„Wir haben Dich nicht zurückerwartet.“

Wie der Schein eines bitteren Lächelns glitt es um die schmalen Lippen des Kranken.

„Ja, ja, ich wußte schon, daß in Waltershofen kein Kalb geschlachtet wird zu Ehren meiner Heimkehr. Vielleicht lernt der verlorene Sohn sogar noch die Trebern schätzen, die ihm nicht mehr munden wollten.“

„Und doch bist Du wiedergekommen?“

„Was willst Du? Einfältige Sentimentalität! Ich weiß, Du bist ihr nicht zugänglich, aber der Schöpfer hat unsere Naturen ungeschickter Weise vertauscht. Ein fataler Irrthum – wie? Du solltest der Bruder und ich die Schwester sein – so wäre alles anders geworden, besser, viel besser.“

Sie antwortete nicht auf den Spott, sondern fragte statt dessen fast mit Härte:

„Und was willst Du nun hier?“

„Weiß ich’s? Vielleicht sterben,“ antwortete er tonlos.

„Da sei Gott vor! So weit ist’s noch nicht,“ murmelte Trine auf die Spitzen ihrer gefalteten Hände. Hilda schüttelte nur unwillig den Kopf.

„Laß das!“ sagte sie. „Mit Redensarten löst man keine ernste Frage; es hätte Dir sonst nicht fehlen können. Glücklicher Weise ist das Sterben Denen am fernsten, die am meisten davon reden.“

„Es wäre allerdings ein ungeschickt gewählter Moment,“ fuhr der Kranke fort. „Würde Euch Unbequemlichkeiten machen. Sehe das ein; es thut mir auch leid, aber siehst Du – ich bin so müde – todtmüde! – Hätt’ es freilich drüben abthun können – recht weit fort, daß man nicht wüßte, wo, wann, wie … Verschollen, vergessen – aber wozu habt Ihr mich denn hinübergeschickt?“

„Wahrlich nicht zum Verkommen und Sterben!“ entgegnete sie, aus ihrer dumpfen Zurückhaltung aufgerüttelt. „Frei solltest Du Dich regen können, Wilhelm, die Schmach vergessen und Dich über sie erheben; arbeiten solltest Du und ein neues, unbescholtenes Leben beginnen. Dazu wollten wir Dir helfen, und Du weißt es selbst recht gut. Du willst nur mit Verleumdung die eigene Schuld, die eigene Feigheit decken. Feigheit, ja wohl! Denn nur die gefällt sich darin, vom Sterben zu sprechen, wo ihr die Pflicht, zu leben, zu schwer dünkt. Wärst Du ein Mann, dann würdest Du nur daran denken, für diejenigen zu leben, die auf Dich angewiesen sind. Nimm Dir ein Beispiel an Deiner eigenen Frau!“

„Freilich! Meine Frau!“ erwiderte er noch immer in dem apathischen Tone wie früher. „Man hat drüben verschiedene Maßstäbe für Gentlemen und Ladies – ihr kann’s vielleicht gedeihen.“

„Drüben? Ist sie nicht mit Dir gekommen?“

„Ich bin allein. In Waltershofen ist das, mein’ ich, ein Umstand, der für mich sprechen und meine Aussichten auf eine günstige Aufnahme vermehren dürfte.“

„Und weshalb bist Du allein?“ fragte sie. Das Erstaunen war der Empörung gewichen. „Ist es möglich? Wilhelm, Du hast Weib und Kind verlassen, um solcher herzlosen, selbstsüchtigen Berechnung willen verlassen?“

„Verlassen? – Bah! Verlassen haben sie mich. – Liebe, kleine Any, arme Any! – sie hatte so schönes blondes Haar.“ – Die Worte kamen nur langsam aus seiner sich schwer hebenden Brust, und seine fieberhaften Augen glänzten so seltsam feucht, während sie in die Ferne, durch die Wand, weit, weit hinaus zu schauen schienen. „Arme, süße Kleine! – Aber vielleicht war es das Beste für sie. Sie hatte einen so klugen Verstand, so scharfe Auffassung in den großen, braunen Augen, viel zu scharf. – Es wird wohl das Beste gewesen sein. Was hätte sie auch im Leben für eine Zukunft gehabt? Was hätte aus ihr werden können? Es ist schrecklich zu denken, schrecklicher als der Tod, viel schrecklicher. Arme Kleine! Einen Vater haben, der zu schwach ist, sein Kind zu beschützen, es zu versorgen und vor allen bösen Einflüsterungen und Nachstellungen zu behüten, und auf der andern Seite das Vorbild – ach, ach! wahrlich, ein nachahmenswerthes Beispiel!“

Er war wieder in die alte Ironie verfallen, aber an seiner Wimper hing noch die Thräne, welche die Erinnerung an seine kleine Any ihm erpreßt hatte.

„Dein Kind ist todt, Wilhelm?“ fragte Hilda weicher, als es ihr eigentlich angemessen schien; sie trat näher an den Tisch heran,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_060.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2023)