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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zu heben, sie sofort zu verjüngen und einer früher nicht geahnten Pracht und Blüthe entgegenzuführen. Die Thore der Stadt thaten sich weit auf, und durch dieselben hielt seinen triumphirenden Einzug der Geist der neuen Zeit.

Die erste Folge des kaiserlichen Machtwortes war natürlich ein ganzer Rattenkönig von Processen, die zum Glück abermals durch ein Wort des Kaisers rasch niederschlagen wurden. Es hatten sich nämlich zum Antritt des Besitzes sofort mehrere Erben gemeldet. Die Commune vertrat die Ansicht, daß die nun frei gewordenen Gründe städtischer Boden seien. Der Kriegsminister wieder fand es für selbstverständlich, daß nicht nur Wälle und Gräben, sondern auch die Glacis in sein Ressort gehörten. War es doch von jeher sein Recht gewesen, auch mehrere hundert Klafter über die Wälle hinaus keinen Bau zu dulden; folglich mußte jetzt auch ihm allein das Verfügungsrecht zustehen. Endlich machte auch das Oberhofmeisteramt ein Recht an das Terrain geltend.

Durch einen Machtspruch des jetzigen Kaisers wurde jedoch die ganze complicirte Angelegenheit sehr bald zum Segen der Stadt Wien geordnet. Der Staat bemächtigte sich der Gründe; die concurrirenden Parteien bekamen, was sie nothwendig brauchten: die Stadt den Grund für den wundervollen Stadtpark und für andere Gartenanlagen, für das Rathhaus, für Schulen und Markthallen, der Kriegsminister für sein General-Commando und für Casernenbauten, das Hofärar für die Hofmuseen und Mittel für den projectirten Umbau der Burg. Der Rest sollte der Verwaltung des Ministeriums des Innern untergestellt werden; dieses sollte die Gründe parcelliren, veräußern und aus dem Erlöse selbst gemeinnützige Prachtbauten aufführen lassen. So die Anordnungen des Kaisers! Es war ein Machtspruch, den er gethan hatte, und es giebt heute noch Viele, die einen Rechtsspruch des Richters vorgezogen hätten. Das Volk im Ganzen und Großen segnet seinen Kaiser ob dieses weisen Machtspruches; denn wenn es wirklich zu jenem Monstreprocesse gekommen wäre, wer weiß, wann er ein Ende genommen hätte!

Ueber den Gesammtwerth der nach der oben erwähnten Vertheilung erübrigten Gründe liegen mir keine authentischen Daten vor. Bisher soll der Stadterweiterungsfonds 42 Millionen Gulden, also 84 Millionen Mark aus dem Verkaufe der Gründe erzielt haben, die ausschließlich für die Verschönerung Wiens zu verwenden sind. Man kann sich nun denken, wie unter so bewandten Umständen die Bauthätigkeit in Wien sich entwickeln mußte. Anstatt der Stadtgräben schlingt sich nun die Ringstraße um die innere Stadt, ein Ring, der reich besetzt ist mit architektonischen Perlen und Edelsteinen, und wo früher wüste und öde Glacis sich ausdehnten, erheben sich jetzt glanzvolle, stattliche neue Stadttheile. Die Vorstädte, nun mit der inneren Stadt in innige Verbindung gebracht, hörten auf, Vorstädte zu sein und zu heißen. Wien wurde in zehn Bezirke eingetheilt, und die innere Stadt ist der erste Bezirk, ein Bezirk wie die übrigen – primus inter pares – der Erste unter Gleichen. Das ist die Geschichte des inneren der beiden concentrischen Kreise, und gerade jetzt ist wieder einmal die Bewegung so recht im Zuge, dieselbe Geschichte in noch vergrößertem Maßstabe bei dem äußeren durchzuführen

Die noch disponiblen Gründe des Stadterweiterungsfonds werden in nächster Zeit ganz verbaut sein, und wenn auch die Linienwälle nicht so bald fallen sollten, wie es jetzt den Anschein hat, so wird deshalb die Bauthätigkeit in Wien doch nicht ins Stocken gerathen. Im Gegentheil, es hat heute ganz den Anschein, als sollte sie jetzt sich erst recht heben. Denn nunmehr geht es an den Umbau der inneren Stadt, der durch die Neubauten zu einer fast unvermeidlichen Nothwendigkeit geworden ist. Es ist von ganz eigenthümlichem Interesse, zu beobachten, wie ein neues Haus neben den alten Häusern wirkt. Man glaubt zu sehen, wie die letzteren förmlich krank werden und alle Lebenslust verlieren neben den neuen; sie machen es gewöhnlich auch nicht mehr lange. Die Straßenzüge, die bis an die Stadterweiterungsgründe reichen, werden zuerst inficirt. Dem Hausherrn des alten Eckhauses wird’s ungemüthlich; er fängt an, sich zu schämen, und er hat nicht eher Ruhe, bis auch sein Besitz so stattlich dasteht. Nun ist einmal Bresche gelegt. Der Eingang der Straße ist erweitert; das alte Nachbarhaus zeigt nun sogar ein Stück Feuermauer; es bietet einen abscheulichen Anblick; zudem ist es ein Verkehrshinderniß und ein Aergerniß für die ganze Stadt – es muß fallen, und es fällt förmlich von selber. So geht das fort. Das Neue dringt immer mehr nach dem Centrum vor, und neben dem Neuen vermag sich das Alte nicht mehr zu halten. So kommt es, daß in Wien seit zwei Decennien mehr und glänzender gebaut wird, als sonst in einer Stadt der Welt.

Die größte Beachtung verdienen zunächst natürlich die öffentlichen Monumentalbauten, und eine Reihe derselben stellt heute die „Gartenlaube“ ihren Lesern in sorgsam ausgeführten Bildern vor die Augen. Auf Vollständigkeit macht das Bild keinen Anspruch.

Zum Beweise dessen sei hier nur die Liste der wichtigsten dieser Bauten hergestellt: Museum für Kunst und Industrie, Gewerbeschule, Akademisches Gymnasium, Musikvereinsgebäude, Künstlerhaus, Opernhaus, Akademie der bildenden Künste, kunstwissenschaftliches Museum, naturhistorisches Museum, Parlament, Justizpalast, Rathhaus, Burgtheater, Universität, Telegraphengebäude, Generalcommando, Votivkirche, chemisches Laboratorium, Börse. Zu diesen Bauten kommen außer dem leider in Trümmern liegenden Ringtheater noch der Cursalon im Stadtpark, das Stadttheater, verschiedene Schulhäuser, Markthallen und eine unübersehbare Reihe von glanzvollen Privatpalästen, das adlige Casino, einige erzherzogliche Palais, Paläste von Eisenbahn-Gesellschaften und solche von den vornehmsten Mitgliedern der Geburts- oder Finanzaristokratie, großartige Hôtels, das städtische Pädagogium – doch geben wir es auf, die Liste zu Ende zu führen.

Was wir da angeführt, reicht wahrlich aus, um einen Begriff von der imposanten Bauthätigkeit Wiens während der letzten Jahre zu vermitteln. Als Schlußeffect wird nun der Umbau der kaiserlichen Burg in Angriff genommen. Es war der ausdrückliche Wunsch des Kaisers, daß sein Haus zuletzt an die Reihe komme. Das Neu-Wien des inneren Kreises wird also bald fertig dastehen. Jemehr sich aber Wien zu einer modernen Weltstadt entwickelt, desto dringlicher wird auch das Bedürfniß nach Verkehrsmitteln großartigen Stiles, und die Stadtbahnen werden nunmehr als unmittelbare Nothwendigkeiten betrachtet. Der Betrieb der Stadtbahnen hat aber die Auflassung der Linienwälle zur nothwendigen Voraussetzung, wodurch Wien wieder tausende von überaus günstig gelegenen Baustellen gewinnen wird.

Unsere Architekten sahen sich plötzlich vor große Aufgaben gestellt, und mit jeder neuen Aufgabe wuchsen ihre Kräfte sichtlich. Es schoß ein junger Nachwuchs in die Halme, der sehr bald reif wurde unter dem Sonnenstrahle der günstigen Gelegenheit, und heute ist Wien in der That eine wahre Hochschule der Architektur und wird weit und breit als solche anerkannt. Die Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sie macht auch große Künstler. Das lehrt uns eine Promenade über die Ringstraße. Die dort zuerst gebauten Häuser sind auch die nüchternsten und geschmacklosesten. Das Schönheitsgefühl erwachte nur nach und nach, und nicht nur bei den Künstlern, sondern auch beim Publicum.

Das früher der Architektur gegenüber so gleichgültige Publicum Wiens verfolgt jetzt die Bauten mit warmer Theilnahme, mit geschultem Blick und verständnißvollem Interesse, und eine öffentliche Geschmackswidrigkeit erregt unfehlbar die öffentliche, allgemeine Entrüstung – es ließen sich dafür Beispiele anführen. Freilich giebt es auch Fälle, wo das Publicum sich nicht zu rathen weiß. Vor dem Rathhause beispielsweise zieht sich ein hübscher Park hin, der den Kindern der Umgebung prächtige schattige Spielplätze bietet. Nun kommen die Gartenarchitekten und sagen: der Park muß fallen; denn ein Haus, das jetzt schon, da es noch lange nicht fertig ist, mehr als zehn Millionen Gulden kostet, baut man nicht, um es hinter Bäumen und Sträuchern zu verstecken. Der Stil des Gebäudes erfordert auch seinen besonderen Stil für die Gartenanlagen; es muß daher an Stelle des Parkes ein schönes, geometrisch abgezirkeltes Gartenparterre kommen.

„Was aber,“ wendet eine Mutter ein, „sind zehn Millionen und alle Kunststile der Welt gegen die Gesundheit meines Kindes!“ Und auch sie hat Recht. Das einzige Glück bei der Sache ist nur das, daß man erstlich den herrlichen Bau auch so sehr gut sieht und daß die grünen, lebendigen Coulissen dieses Parkes auch in künstlerischer Hinsicht geradezu eine Wohlthat sind. Denn gerade hier ist auf einer relativ sehr kleinen Fläche eine ganze Musterkarte aller erdenklichen Baustile ausgebreitet: Früh- und Hochrenaissance, Gothik, deutsche Renaissance, griechische Antike. Alle diese verschiedenartigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_030.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)