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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

nämlich des Propheten – die Räthlichkeit, ja Nothwendigkeit einer Sammlung der Offenbarungsschriften des neuen Glaubens herausstellte, so wurde eine erste Redaktion unternommen, welcher unter dem Chalifat Othmans eine zweite und endgiltige folgte. Beidemale verfuhren die Redaktoren ohne alle Methode, und darum ist der Korân, dessen Volumen nicht die Hälfte des Umfangs unserer Bibel beträgt, ein wahres Wirrsal von Buch, ich möchte sagen ein in’s Quadrat erhobenes Sammelsurium. Das einzige Princip, von welchem die Sammler und Ordner desselben sich leiten ließen, scheint gewesen zu sein, die längsten Stücke voran, die weniger langen in die Mitte, die kürzeren und kürzesten an’s Ende zu stellen. So, wie sie jetzt vorliegt, zerfällt die islamische Bibel in 114 Suren, d. i. Kapitel, von sehr ungleichmäßiger Ausdehnung. Einige sind bandwurmlang, andere enthalten nur wenige Zeilen. Der Korân ist in einer Art rhythmischer Prosa verfasst, welche am Ende der Zeilen nicht selten zu Reimen sich zuspitzt. Geist und Ton sind in den einzelnen Abschnitten sehr verschieden; den ganzen Korân aber in einem Zuge durchlesen zu müssen, das dürfte als eine der schwersten Geduldproben zu bezeichnen sein, welche dem Menschen, wenigstens dem abendländischen, auferlegt werden könnte. Der jeden unbefangenen Sinn so sehr anmuthende naiv-epische Stil von manchem der alttestamentlichen Bücher fehlt der islamischen Bibel. Das merkt man deutlich an der Art und Weise, wie im Korân die alttestamentlichen Mythen- und Sagengeschichten von Abraham bis zur Zeit Jesu in ewigen Wiederholungen mitgetheilt sind, mit buntscheckigem Märchenflitterzeug verunziert. Auch der alttestamentliche Schöpfungsmythus kehrt im Korân wieder, aber wunderlich verschnörkelt und so, daß dabei der islamische Teufel, der Iblis, eine vortretende Rolle spielt. In der Regel spricht Mohammed als bombastisirender Rhetor, mitunter jedoch auch als wirklicher Dichter. Dann findet er, emporgetragen auf dem Feuerwagen seiner Einbildungskraft und seiner Leidenschaft, für eifervolle Anschauungen auch den entsprechend gewaltigen sprachlichen Ausdruck. Ihren höchst-pathetischen Schwung, so zu sagen eine Poesie des Zorns, erreicht die heilige Schrift des Islâm, wann sie die Schrecken des Weltgerichts und die Qualen der Hölle schildert, ihre höchste Anmuth und Feierlichkeit, wann sie von den Freuden redet, welche der Seligen im Paradiese harren.

(Schluß folgt.)




Das neue Wien.

Bei der Erwähnung der herrlichen Metropole an der Donau überkommt heute Jeden ein Gefühl der Trauer und der Wehmuth, wie wir es wohl empfinden, wenn wir ein Haus betreten, in dem noch die letzten Hauche eines eben Verstorbenen wehen. Seit der grauenhaften Ringtheater-Katastrophe ist Wien ein Haus der Trauer geworden. Aber man soll, wenn der Zoll des Schmerzes gezahlt worden, sich allmählich den Lebenden wieder zuwenden; es ist eine Forderung der Humanität, der Barmherzigkeit, daß man nicht endlos an den Bildern der Trauer hängt: den Schwerbetroffenen ist es ein Trost, die Gedanken von der eigenen Trauer wohlthätig ab- und heiteren Bildern freundlich zugelenkt zu sehen.

Versuchen wir daher heute auf einen Moment die traurige Katastrophe vom 8. December vorigen Jahres zu vergessen, und wenden wir den noch umflorten Blick fort von den Schrecken der jüngsten Vergangenheit und dem in seinen ersten Anfängen schon herrlich strahlenden Wien der Zukunft zu!

Blühender als je zuvor steht auf ihre alten Tage die prangende Vindobona da. Es war und ist ihr vergönnt, eine förmliche Auferstehung zu feiern, und das unter Umständen, wie sie sich gleich günstig kaum noch jemals für eine Großstadt ergeben haben. Aus den Bedrängnissen und Unbequemlichkeiten früherer Generationen ist für die jetzige ein wahrer Segen geworden; so konnte das Unglück Pompejis eine Quelle freudigsten Genusses für unsere Tage werden. Doch vielleicht ist unser Vergleich nicht ganz zutreffend; dafür ist’s ja auch ein Vergleich, und der hat das Recht, zu hinken.

Man stelle sich einmal den Situationsplan von Wien vor! Den Mittelpunkt der Stadt bildet eines der edelsten Baudenkmäler aller Zeiten, der erhabene, in majestätischer Glorie himmelaufragende Stephansthurm; ihm zu Füßen breitet sich die innere Stadt, die eigentliche City aus. Es sind noch keine fünfundzwanzig Jahre her, daß die innere Stadt mit einem steinernen Gürtel umschnürt war, daß ihr schier der Athem verging, und diesen Gürtel bildeten die Stadtwälle, welche im Kreise um die Stadt herum aufgeführt waren. Zu den Wällen gehörten naturgemäß die Gräben; um diese dehnten sich in weitem Bogen die Glacis, und erst dann kamen die nach Dutzenden zählenden Vorstädte, aber auch diese wurden wieder durch einen kolossalen Ring eingeschlossen. Wieder gab es Wälle und Gräben, die bei dem ersten dieser beiden concentrischen Kreise aus militärischen Rücksichten aufgeführt worden waren, während sie hier bei dem zweiten lediglich der lieben Verzehrungssteuer wegen aufrecht erhalten wurden und noch werden. Außerhalb des zweiten Kreises erfreuen sich die Vororte – nicht zu verwechseln mit den Vorstädten, obschon einige derselben recht respectable volkreiche Städte abgeben würden – ihres idyllischen verzehrungssteuerlosen Daseins. Diese Vororte bilden selbstständige Gemeinden, wenn auch kein Fremder, wenn er die gerade Straße fortwandelt, je in seinem Leben bemerken würde, daß er, die Mariahilfer oder Hernalser Linie überschreitend, aus der Stadt Wien hinausgekommen sei. Es wird auch kein Fünfhauser oder Hernalser jemals zugeben, daß er kein Wiener sei; allein gegen die formelle Einverleibung seiner Commune in die Großcommune Wien sträubt er sich doch. Denn wenn er auch nur fünfzig Schritte von der Stadt entfernt wohnt, so bezahlt er doch das Kilo Rindfleisch, Mehl, Zucker, Kaffee, Petroleum, Obst, Gemüse, ja selbst den Wein und das Bier um so und so viel Kreuzer billiger, als der Wiener.

Der Situationsplan von Wien ist im Ganzen und Großen auch heute noch, wie er vor einem Vierteljahrhundert war. Der Stephansthurm bildet noch immer das Centrum, und die beiden concentrischen Kreise existiren nach wie vor, der kleinere derselben allerdings in außerordentlich vortheilhaft veränderter Form. Am 1. Januar 1858 sprach Kaiser Franz Joseph der Erste das Machtwort, daß die die innere Stadt umgebenden Stadtwälle zu fallen hätten. Es war das ein großes, bedeutungsvolles, entscheidendes Wort, und hatte es auch nicht das Gewicht einer Weltkugel, wie eine beliebte journalistische Phrase lautet, so war es doch gewichtig genug, um die alte, ehrwürdige Kaiserstadt förmlich aus den Angeln

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_029.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)