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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


Mohammed und sein Werk.
Ein Vortrag von Johannes Scherr.


1.

Als ich zuletzt die Ehre hatte, in diesem Sale[1] zu sprechen, war mein Thema die Erscheinung jener lotharingisch-französischen Patriotin, die Gestalt und die That der Jeanne d’Arc, welche im 15. Jahrhundert den Anstoß zur Befreiung ihres Vaterlandes von der Zwingherrschaft der Engländer gegeben hat. Vom 15. Jahrhundert in’s 7. und 6., vom Mädchen von Orléans zum Propheten von Mekka ist ein weiter Rücksprung. Der Unterschied zwischen diesen beiden weltgeschichtlichen Figuren stellt sich beim ersten Anblick als ein so bedeutender dar, daß er bis zur Bizarrerie zu gehen scheint. Ein genaueres Zusehen und Vergleichen ergiebt jedoch eine unbestreitbare Aehnlichkeit. Ich meine damit nicht etwa den Schein des Wunderbaren, welchen die Laufbahn des orientalischen Religionsstifters und der occidentalischen Landbefreierin aufweisen, sondern vielmehr die Aehnlichkeit, daß in der glänzenden Gestalt des arabischen Helden, wie in der schlichten der Heldin von Domremy gleichermaßen eine große Wahrheit als weltgeschichtliche Thatsache hervortrat, — die Wahrheit: Nicht der klügelnde Verstand, nicht die besonnen rechnende und abwägende Bücher- und Kathederweisheit zeugt und wirkt die großen, die Menschen-, Völker- und Menschheitsgeschicke beginnenden und bestimmenden Gedanken und Thaten, wohl aber thut das jener heilige Sturm und Drang des Herzens, den man übermenschlich, göttlich nennen möchte und muß, die elementare Leidenschaft ursprünglicher Naturen, jene Herrschgewalt des Willens, welche, die „Angst des Irdischen“ weit hinter sich werfend, über alle Schmerzen des Lebens und über alle Schrecken des Todes zu triumphiren weiß. Angesichts dieser Wahrheit dürfte es angemessen sein, dann und wann den souveränen Wissensstolz unserer Tage daran zu erinnern, daß es allzeit Lebensmächte gab, gibt und geben wird, welche nicht zu messen und nicht zu wägen, nicht zu berechnen und nicht zu analysiren sind. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge mag man ja wohl mit Maß und Wage, mit Ziffer und Zirkel, mit Agentien und Reagentien auskommen, aber wann ins Völkerleben große Krisen und Katastrophen hereinbrechen, dann wird immer wieder offenbar, daß die moralische Kraft doch die höchste Macht ist unter Menschen.


Aehrenleserin.
Eine Studie von Paul Thumann.
Nach einer Photographie im Verlage von G. Schauer in Berlin.


Die Wahl meines Gegenstandes trägt, will mir scheinen, ihre Rechtfertigung in sich selbst. Denn es dürfte sich in unserer wirrsäligen Gegenwart doppelt empfehlen, von Zeit zu Zeit betrachtende und aufhellende Blicke auf die unentweglichen Gestalten zurückzuwerfen, welche als leuchtende Marksteine und Pfadweiser die Entwickelungsstationen des Menschengeschlechtes bezeichnen. Sodann möchte heute, wo die sogenannte orientalische Frage, welche sich nachgerade zur Frage nach dem Sein oder Nichtsein der mohammedanischen Welt zuspitzen zu wollen scheint, alljährlich, ja alltäglich Europa in Brand zu setzen droht — heute möchte die mit raschen Strichen zu zeichnende Erinnerung an den großen Mann nicht ganz unwillkommen sein, welcher einer der gewaltigsten und folgenschwersten Revolutionen in der Geschichte der Menschheit den Stämpel seines Geistes und Namens aufgedrückt und die orientalische Frage in ihren Ursprüngen geschaffen hat, indem er der christlichen Religion die islamische gegenüberstellte. Die langen Jahrhunderte des Mittelalters hindurch war, wie jeder weiß, der Kampf zwischen dem europäischen Christenthum und dem asiatischen Islâm das eigentliche Grundmotiv der geschichtlichen Bewegung, und erst mit dem im 17. Jahrhundert begonnenen Niedergang des Osmanenreichs war der endgiltige Sieg des Europäismus über das Asiatenthum entschieden.

Die Augen von Menschen, deren Gedankenhorizont über das Nächstliegende, über das Gestern, das Heute und das Morgen hinausgespannt ist, sie werden stets mit Staunen auf die unscheinbar kleinen Anfänge so ungeheurer Erscheinungen blicken. Der Zimmermann Jesus verkündigt aus der Tiefe seiner von himmlischem Erbarmen mit seinen Mitmenschen erfüllten Seele heraus den Fischern vom See Genezareth die frohe Botschaft von der Allvaterschaft Gottes. Der Kameeltreiber Mohammed theilt seinen mekkanischen Hausgenossen die in der Einsamkeit der Wüste seinem inneren Auge vorübergeschwebten Visionen mit vom alleinigen Gott, von einer Vergeltung nach dem Tode, vom Himmel und von der Hölle. Und aus diesen in zwei abgelegenen Erdwinkeln gemachten Versuchen, das Judenthum weiterzubilden und zu vollenden, entspringen zwei Weltreligionen, welche für unzählige Geschlechter der Menschen die höchsten Güter werden und jahrhundertelang in furchtbarem Ringen mitsammen um die Weltherrschaft streiten. Noch heute ist die Kraft des Besiegten nicht völlig erschöpft, geschweige die des Siegers. Denn das religiöse Empfinden, Vorstellen und Glauben ist nicht, wie ein stumpfnüstriger Materialismus sich selbst und anderen weismachen möchte, eine rein willkürliche, dem Menschen

  1. Rathhaussal in Zürich.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_009.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2021)