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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

dem Menschen eine unendliche Sehnsucht inne nach Lebenseinigung: nach Einigkeit mit Gott, als religiöses Verlangen; nach Einigkeit mit der Welt, als Natur- und Menschenliebe; nach Einigkeit im eigenen Selbst als ethisches Streben, dessen Befriedigung Ruhe und Freudigkeit, dessen Hemmung Unruhe und Schmerz erzeugt. Somit ist auch die Parole für eine naturgemäße Menschenerziehung gefunden; sie lautet: allseitige Lebenseinigung. Alle Erziehung aber muß, von diesem Standpunkte aus betrachtet, nothwendig eine nachgehende, duldende, gewissermaßen leidende sein; denn wie das große organische Lebganze, die Welt, so entwickelt sich auch sein kleiner Sprößling, der Mensch, von innen heraus und gemäß einer bestimmten Gesetzmäßigkeit. Man kann von diesem gesetzmäßigen Entwickelungsprocesse nun die störenden Einflüsse fern halten und ihn in einem möglichst energischen Flusse zu erhalten suchen durch Anregung zu einer systematischen gedeihlichen Kraftbethätigung. Die Individuen sind eine besondere Mischung der menschheitlichen Elemente, und auch diese Mischung läßt sich nur auf Kosten des ganzen Menschen verändern oder gar aufheben. Die erziehliche Genialität zeigt sich in der scharfen Erfassung dieser Individualität und in der Geschicklichkeit, ihr entsprechend zu verfahren.

Abwehr der störenden Einflüsse und allseitige Kraftbethätigung — so heißt also die Doppelforderung menschlicher Erziehung. Die Kraftbethätigung kann aber wiederum eine doppelte sein: sie kann sich äußern als Receptivität oder Empfänglichkeit und als Productivität oder schöpferische Kraft. Der Mensch entwickelt sich nicht allein dadurch, daß er Aeußerliches innerlich macht, das heißt den geistigen Gehalt der Außenwelt zu seinem inneren Eigenthum erhebt, sondern noch viel mehr dadurch, daß er Innerliches äußerlich macht, das heißt Veränderungen an den Dingen der Außenwelt hervorbringt, die den Stempel seines Geistes tragen. Als Knospe am unendlichen Lebensbaume ist er seinem Schöpfer verwandt, ist also ein schaffendes Wesen, das sich nur durch Schaffen entwickeln und vollenden kann und darum auch im Schaffen seinen höchsten Genuß und seine reinste Freude findet. Daraus folgt, daß er von früh an angehalten werden muß, nicht allein zu hören und zu lernen, sondern auch zu schaffen und zu gestalten. Diese Forderung Fröbel’s ist vielfach mißverstanden und bespöttelt worden, weil man, sobald sie laut wurde, immer nur an das abstract geistige Produciren gedacht hat, wozu der Mensch die Fähigkeit erst in reiferen Jugendjahren erhält. Man hat dabei vergessen, daß es auch ein körperliches Gestalten und Schaffen giebt, welches zwar auch geistige Kraft verlangt, aber nur diejenige, welche dem Menschen von da an, wo sein Bewußtsein erwacht, unbestritten eigen ist. Die Anleitung des Menschen zu diesem Gestalten und Schaffen darf aber keine zufällige, planlose sein, wenn sie wirklich eingreifend wirken, dauernde Früchte tragen und der Gesammtentwickelung der Menschheit zum Heile gereichen soll, sondern muß systematisch geregelt, das heißt prinzipiell geordnet sein. Den Fingerzeig für diese Regelung giebt uns die Natur selbst an die Hand. Wie alle Lebenserscheinungen Vermittelungen entgegengesetzt-gleicher, das heißt im Spiegel sich deckender Hälften, so sind auch alle Lebensprocesse Ausgleichungen entgegengesetzter Strebungen. Sucht man daher Beschäftigungen, so muß man sich, falls man nicht der Willkür anheimfallen und dadurch seine Wirksamkeit in Frage stellen will, leiten lassen von diesem Gesetze aller Entwickelung.

Unser schöpferischer Pädagog hat diesen Weg betreten und mit aller Entschiedenheit eingehalten, als es sich um die Construction der Spielmittel für die vorschulpflichtige Jugend, also um die Einrichtung des Kindergartens handelte. Zu einer praktischen Anwendung und Darlegung seiner Anschauung und jener Principien auf die spätere Entwickelungszeit der Jugend ist er nicht mehr gekommen, sondern hat es der Zukunft überlassen müssen, diese Konsequenzen seiner Denkweise zu ziehen; ein Mensch, kann eben nicht alles leisten.

Mit aller Entschiedenheit aber betont er, daß die Abwehr schädlicher Einflüsse, wie er sie in seinem Kindergarten bietet, ähnliche Anstalten auch für die reifere Jugend fordere. Die Idee der „Jugendgärten“, die namentlich durch Schwab in Wien vertreten wird, fordert etwas Aehnliches. Sodann behauptet er ebenso entschieden, daß die jetzige Erziehung der reiferen Jugend an Einseitigkeit kranke, da sie einmal sich einer vollständigen Vernachlässigung des körperlichen Schaffens und Gestaltens, und zweitens einer Bevorzugung der Receptivität, also der Empfänglichkeit, vor der Productivität, also der schöpferischen Kraft, schuldig mache. Sie verleite, so sagt er, zur Körperträgheit und Werkfaulheit und lasse etwa die Hälfte der menschlichen Fähigkeiten unentwickelt. Getrieben von der Einsicht in unverkennbare wirtschaftliche Mißstände, fühlt man jetzt die Wahrheit dieser Behauptung vielfach heraus und verlangt häusliche Beschäftigungen, Arbeitsschulen etc. Das sind Zeichen dafür, daß die Zeit heranrückt, in welcher man zur Verwirklichung der Fröbel’schen Idee schreiten wird.

Für diese Verwirklichung erhoffte Fröbel nichts vom Staate, sondern alles vom Volke. Dereinst müsse die Zeit kommen — so meinte er — in welcher die ganze Gesellschaft die Erziehung als ihre wichtigste Angelegenheit betrachten werde, als eine Angelegenheit, in welcher Jeder, welchem Berufe er auch obliege, sich ein Stück irdischer Unsterblichkeit erringen könne; denn was man für die Jugend wirke, das trage Früchte, welche in die Ewigkeit hinein reifen. Dann werde man seiner Standarte folgen, auf welche er mit großen glühenden Lettern geschrieben hatte:

„Kommt, laßt uns den Kindern leben!“

In dieser Zeit werde sich die Gesellschaft veranlaßt, sehen, sich in sogenannte „Erziehungsfamilien“ zu theilen. Eine Corporation von Familien also werde in ihrem Bezirke für die gedeihliche Entwickelung aller Kinder des Bezirks sorgen, auch für die der Armen und Aermsten. Sie werde sorgen für deren körperliche und geistige Pflege und Entwickelung durch Kinder- und Jugendgärten, und in ihnen das Gestalten und Schaffen, das körperliche und geistige Produciren zum leitenden Principe erheben — also einmal die nöthige Abwehr anti-erziehlicher Einflüsse in die Hand nehmen und dann dem Schöpfertriebe genügende Nahrung und Anleitung verleihen. Das abstracte Lernen werde basirt werden auf dieses Gestalten und Schaffen und dadurch der gesammte Unterricht eine urneue Grundlage erhalten. Die Folge müsse dann eine Erneuerung des gesammten nationalen und allgemeinen Menschenlebens sein.

Die Hoffnung unseres pädagogischen Kämpfers wird nicht zu Schanden werden, wenn sie auch heute oder morgen noch nicht in Erfüllung geht. Die ganzen Bewegungen auf socialem Gebiete drängen darauf hin, und die Bestrebungen, welche auf Errichtung von „Jugendgärten“ und „Arbeitsschulen“ hinauslaufen, erscheinen schon als Pionniere einer neuen pädagogischen Aera. Alle Vorschläge dieser Art aber stehen isolirt da und haben nur sporadische Bedeutung, so lange sie nicht durch eine consequente und allseitige Verwirklichung des Fröbel’schen erziehlichen Systems tiefen Grund und Boden und systematischen Zusammenhang erhalten.

Wir brechen hier des uns knapp zugemessenen Raumes halber ab, obgleich wir noch viel zu sagen hätten über diejenige Schöpfung Fröbel’s, welche ihn berühmt gemacht hat in aller Welt, nämlich über den Kindergarten und namentlich über dessen Bedeutung für das weibliche Geschlecht und das Familienleben. Der Entwurf dieser Fröbel’schen Schöpfung verräth fürwahr eine ebenso große Tiefe wie poetische und ästhetische Anziehungskraft. Schon das Wort „Kindergarten“, das unserem Reformpädagogen urplötzlich einfiel, bekundet die Doppelseitigkeit seiner Gestaltungen.

Wir wünschen unserem Helden, was Goethe seinem Freunde Schiller wünschte, daß ihm nämlich die Nachwelt ganz gewähren möge, was ihm das Leben nur halb ertheilt hat, und darum auch der bevorstehenden Feier möglichste Allgemeinheit und Würdigkeit. Wenn eine Nation ihre bedeutenden und großen Männer nach Gebühr ehrt, so ehrt sie sich selbst. Neben den jetzt die Generation beherrschenden materiellen Interessen giebt es bekanntlich auch geistige Interessen, und das deutsche Volk hat von jeher bewiesen, daß es diese höher zu schätzen weiß, als jene. Gerade dieser Umstand hat uns im Stadium unserer politischen Ohnmacht und Zerrissenheit die Bezeichnung „Volk der Denker und der Träumer“ eingetragen. Dieses „Volk der Denker und der Träumer“ ist mächtig und realistisch geworden, darf auch den nunmehr eingeschlagenen Weg nicht vernachlässigen; aber trotzdem sollte es mitten auf dieser Bahn und inmitten des realistischen Kampfes zeigen, daß der Deutsche niemals seine eigenste und beste Natur zu verleugnen vermag, wenn er auch seine Schwächen abzuschütteln weiß; es sollte am 21. April beweisen, daß es einen seiner genialsten Denker und Träumer zu würdigen versteht, nämlich den Pfarrerssohn von Oberweißbach, Friedrich Fröbel.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_008.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)