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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

und mithin durch diesen Tunnel die am meisten zwischen Italien und der Schweiz beziehungsweise Deutschland benützte Verkehrsstraße sich hinzog. Ehe noch die Straße vervollkommnet wurde, passirten jährlich mehr denn 16,000 Menschen und 9000 Pferde, den Unbilden und den mannigfachen Gefahren der Hochgebirgswelt trotzend, den St. Gotthard und in Folge dessen auch das Urner Loch.

Seit circa einem halben Jahrhundert durcheilten eidgenössische Postkutschen und Postschlitten das Urner Loch, und Tausende von Menschen erfreuten sich alljährlich an dem jähen Wechsel der Scenerie, den dieser kurze Tunnel an seinen Ausgangspunkten in höchst überraschender Weise gewährt. Der unsterbliche Sänger Tell’s erwähnt auch in seinem Meisterwerke die grauenvolle Höllenschlucht der Schöllinen, die, von jeder Vegetation entblößt, von der nördlichen Mündung des Urner Lochs sich nordwärts zu den weiteren und anmuthigeren Thalgeländen hinabsenkt, und gedenkt des stillen, freundlichen Hochthales, der weiten, anmuthigen und grünen Hochebene von Andermatt und Hospenthal, indem er seinen schweizerischen Volkshelden begeistert von dem „Thal der Freude“ sprechen läßt. Tief unter dem Urner Loche und diesem „Thal der Freude“ durchbohrt heute den Riesenleib St. Gotthards der 14,920 Meter lange St. Gotthardtunnel, eine der stolzesten Leistungen unseres Jahrhunderts.

Wenn aber nach der Eröffnung desselben für den Eisenbahnverkehr in der dunklen Tiefe da unten das Dampfroß auf glattem Schienenwege mit Windeseile seinen Weg zurücklegt, wird keine Eidgenössische Postkutsche mehr über den St. Gotthard rollen. Der Transitverkehr im hochgelegenen Urserenthale, seit Jahrhunderten die Haupterwerbsquelle der Bewohner, wird dann gänzlich versiegen, und nur während des Hochsommers werden vereinzelte Touristen das weite stille Thal besuchen, um vielleicht vorübergehend oder während kurzer Wanderrast sich an der nahen großartigen Hochgebirgsscenerie zu erfreuen. Die Bewohner des Urseren Thales werden, ihren jetzigen Haupterwerb einbüßend, zum großen Theil entweder auswandern oder zu anderem bis jetzt ungewohntem Erwerbe greifen müssen. Karl Stichler.




Um die Erde.

Von ’’Rudolf Cronau’’.
Fünfter Brief: Baltimore.

Die Eisenbahn, welche New-York mit Philadelphia und Baltimore verbindet, führt durch zwei Reihen Bretterzäune und Holzbaracken, auf denen abwechselnd die Worte: „Iron Bitters, a true tonic“ („Eisen-Bitter, ein wahres Stärkungsmittel“) – „Use Blood Pills, good for all pains“ („Blutpillen, gut gegen alle Schmerzen“) und ähnlich lautende Ankündigungen in riesengroßen Lettern, bald gelb und grün, bald roth und schwarz zu lesen sind. Nur ab und zu ist dieser Spießruthengang unterbrochen, und der Reisende gewahrt, daß er durch eine wirkliche Landschaft fährt, eine Landschaft mit Wäldern und Wiesen, mit Dörfern und Städten und Strömen, von welch letzteren einige weltbekannte Namen tragen wie: Delaware, Susquehanna, Brandywine etc. Nach Hesse-Wartegg, der bekanntlich über die Vereinigten Staaten ein umfangreiches Buch geschrieben hat, soll die Gegend sogar eine der fruchtbarsten der Welt sein, und wahrlich, wenn die Industrie und Agricultur mit dem üppigen Stande der Reclame nur annähernd gleichen Schritt hält, sind die Länder an der Pennsylvania-Bahn ein zweites Canaan.

„Lookout for the locomotive“ („Hab’ Acht auf die Locomotive!“) ist das zweite charakteristische Avis, das dem Auge des Europäers begegnet. Der sich immer wiederholende einfache Satz auf der weißgestrichenen Planke belehrt uns, daß wir im Lande der Selbsthülfe sind, wo Bahnwärter, Barrièren und Warnungstafeln nicht zu den gewöhnlichen Institutionen gehören; wir befinden uns in einem Lande, wo die Züge, unbekümmert um das, was etwa ihren Weg kreuzen könnte, in die Welt hinausdampfen, wo der cow-catcher die einzige „sanfte Mahnung“ ist, die uns daran erinnert, daß wir die Augen offen halten und bei Seite zu gehen haben. Der cow-catcher, wörtlich „Kuhfänger“, ist nämlich eine pflugartige Vorrichtung am Kopfe der Locomotive, die alle nicht auf das Schienengeleise gehörigen Gegenstände rücksichtslos bei Seite wirft. Dem Umstande, daß seine Belehrung besonders zahlreich den frei umherlaufenden Kühen zu Theil wird, verdankt das Instrument seinen eigenthümlichen Namen.

Der cow-catcher ist so recht das Wahrzeichen Amerikas und sollte von Rechtswegen mit der Umschrift „Lookout!“ in das Staatswappen aufgenommen, zum wenigsten aber in Riesendimensionen an den großen Hafenplätzen angebracht werden, als erste Mahnung an die Einwanderer, die Augen in jeder Weise offen zu halten. Das Leben in Amerika ist nämlich eine unausgesetzte Schlacht; die Siegenden schreiten unbarmherzig und unaufhaltsam über die Strauchelnden hinweg, und man hat sich darum wohl vorzusehen, daß man nicht falle; denn nur in den seltensten Fällen findet sich Jemand, der einem wieder auf die Beine hilft. Also „Lookout“ – sonst kommt der cow-catcher.

Auf den Bahnen Amerikas giebt es außer den Emigranten-Waggons nur „Erste Classe“, und mit dieser Einführung ist dem armseligen Kastengeist, der in Europa das Reisen manchmal so unangenehm macht, Thor und Thür verschlossen. Ob aber wohl für ewige Zeiten das Gleichheitsgefühl in Amerika so vorherrschend sein wird, daß der Staatsmann, der Senator sich dazu versteht, mit seinem Diener dieselbe Sitzbank zu theilen, daß die reiche, diamantenstrotzende Gemahlin eines Börsenkönigs gewillt ist, dieselbe Luft zu athmen mit der einfachen Handwerkerfrau im Kattunkleide?

Aber trotz Allem ist das Reisen in Amerika leicht und angenehm: nirgends begegnen wir der leidigen Bevormundung des Publicums durch das Bahnpersonal; nirgends ist eine allein reisende Dame den Zudringlichkeiten eines Musterreisenden ausgesetzt. Der Bequemlichkeiten einer amerikanischen Eisenbahnfahrt sind viele – aber davon später vielleicht einmal! Heute will ich Sie in die Stadt führen, die stolz auf die Schönheit ihrer Frauen ist – nach Baltimore. Und fürwahr, man braucht im Staate Maryland nicht mit der Diogeneslaterne zu gehen, um „weibliche Ideale“ zu suchen. Wären unsere Sitten noch die der alten Römer und hauste neben den Maryländern das frauenbedürftige Volk der Latiner, wer weiß, ob ich nicht auch ein – Latiner würde. Die naiven Tage aber sind vorbei; sie kehren nicht wieder. Seitdem die leidigen Statistiker herausgerechnet, daß jetzt die Zahl der Frauen im amerikanischen Staatenbunde fast so groß, wie die der Vertreter des starken Geschlechts, hat man den Glauben längst aufgegeben, daß ein Mädchen „nur nach Amerika“ zu gehen brauche, um sich unter dem halben Hundert ihm zu Füßen knieender, goldsackumgebener Millionäre „den besten“ heraus zu suchen.

Die Damen von Maryland sind – doch soll ich die Schönheit derselben mit kritischem Messer seciren? Wahrlich nein! Freuen wir uns lieber derselben und sagen nur noch, daß die Töchter des Tabakstaates von der Natur besser bedacht sind, als von ihren Modistinnen, und daß sie, wie alle Schönen Amerikas, noch weit reizender sein würden, wenn sie weniger Essig zur Vertilgung der Röthe ihrer Wangen, weniger Quittensaft für ihre Scalplocken gebrauchen wollten.

Baltimore ist aber nicht allein stolz auf seine Frauen, es beansprucht auch den pompösen Namen „die Stadt der Monumente“, und zwar im Hinblick auf die drei Bauten: das Washington-, das Schlachten- und das Wildey-Denkmal. Das bedeutendste derselben, das Washington-Monument, welches ich Ihnen anbei im Bilde vorführe, ist auf einem Hügel in der Nähe der Vernon-Kirche und der Peabody-Librairie gelegen und besteht aus einer mächtigen, 160 Fuß hohen Säule von weißem Marmor, die von einer 15 Fuß hohen Statue Washington’s gekrönt wird. Eine Wendeltreppe führt im Innern bis zu der Plattform des Capitals empor, und soll man von derselben aus einen herrlichen Blick über Stadt, Land und Hafen genießen, den ich mir aber leider versagen mußte, da ich noch unter der Knieprobe der Besteigung des Thurmes der Trinity-Church von New-York zu leiden hatte.

Wohl der schönste Zug im Charakter des amerikanischen Volkes ist die Freigebigkeit bezüglich der Errichtung von Schulen, Spitälern, Waisenhäusern, Bibliotheken u. dergl. Baltimore, die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 879. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_879.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)