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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

seiner seligen Frau, neben der sorglich in einem Schächtelchen geborgenen Nationalcocarde, ein fleckenlos gehaltenes Heft, von dessen Existenz selbst Lieschen nie etwas erfahren hatte. „Das Unrecht des Rechts!“ so stand in langen altfränkischen Lettern auf dem Umschlag. Jeremias hatte die Vorarbeiten zu diesem verborgenen Geistesschatz schon seit 1849 begonnen, wo sein bester Freund und Wandergenosse, Peter Flink, unter der Anklage des Widerstandes gegen die Staatsgewalt zwei Jahre festgesetzt, dadurch in seinem Handwerke ruinirt und schließlich ohne Entschädigung, wegen Beweismangels, wieder entlassen und zur Auswanderung nach Amerika gezwungen wurde. Keine ungerechte Anklage, keine Inconsequenz und Härte des Strafgesetzes, wovon die im „Goldenen Lümmel“ gehaltenen beiden Zeitungen Meldung brachten, entging seit jener Zeit den Augen Lump’s. Er sammelte diese Nachrichten so gewissenhaft, wie ein Goldgräber den Goldstaub, eine Braut die Liebesbriefe des Bräutigams und ein zum ersten Male amtirender Pfarramtscandidat seine Gedanken. In unbewachten Stunden suchte er dann aus der Fülle des vorliegenden Materials die schroffsten Fälle aus, klebte dieselben auf und versah sie mit säuberlich geschriebenen Randbemerkungen. Das Endresultat dieser Sammlung bildete eine: „Der Zukunftsstaat im Rechtszeitalter“ betitelte Abhandlung, eine Arbeit, die niemals fertig wurde und sich aus einzelnen, abgerissenen, monatelang von einander entfernten, zwar confusen und barocken, aber unstreitig neuen und eigenartigen Gedanken und Einfällen zusammensetzte. Dieses Manuscript war Jeremias’ bestes Eigen. Was dem Geizhals sein Arnheim, dem Minister sein Portefeuille, dem Bischof sein Krummstab, das war Jeremias Lump sein „Unrecht des Rechts“. Er bewahrte das Manuscript nicht in einem Secretär oder Pulte auf – es schlummerte friedlich unter den Hemden seiner Seligen – er bot es auch keinem Verleger zum Druck an, und doch war er vernarrter in dasselbe, als ein Poet in sein erstes Bändchen halbflügger Jugendgedichte.

Von der Existenz des Heftes wußte, wie gesagt, außer ihm selbst keine sterbliche Seele; der Inhalt desselben aber war nichtsdestoweniger in Lump’s Umgangskreisen mehr oder minder bekannt; denn Jeremias fielen die guten Gedanken nicht von selbst in den Schoos; wie Lessing mußte er sie „durch allerlei Röhren und Druckwerk“ aus sich herauspressen, aber gerade die Schwierigkeit der Geburt machte ihm seine Geisteskinder noch lieber, prägte sie seinem Gedächtniß nur noch fester ein, und häufig genug brachte ihn das Citiren seines geliebten revolutionären Gedankenschatzkästleins bei den abendlichen Sitzungen im „Goldenen Lümmel“, die er namentlich in der letzten Wochen übermäßig lange ausdehnte, mit seinen Freunden und Bekannten heftig an einander. Des Meisters Schwiegersohn in spe hatte sich sogar vor drei Wochen bei ähnlichem Anlaß zu der verwegenen Aeußerung hinreißen lassen, mit einem so verbissenen alten Socialdemokraten wolle er nichts mehr zu schaffen haben. Fritz hatte sich seitdem auch wirklich ganze vierzehn Tage nicht auf der Werkstatt sehen lassen.

Alle diese Thatsachen, Erinnerungen und Erlebnisse, gewürzt und durchzogen von dem Dufte des mangelnden Gänsebratens, tanzten Jeremias jetzt durch den trüben, müden, duselnden Kopf und, halb ungewiß, ob er das letzte Knopfloch an dem neuen Ueberzieher fertig eingefaßt habe oder nicht, entschlief er.

Ihm träumte, er sei gestorben und er flöge nun glattrasirt, wie es nur an besonders hohen Feiertagen bei ihm vorkam, im weißen Leichenhemde, sein „Unrecht des Rechts“ unter dem Arme, gen Himmel, dem heiß ersehnten Ideallande der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit entgegen. Er flog gerade über Schwatzhausen, seiner Vaterstadt, empor und blickte erstaunt auf die blauen Dächer, die grünen Alleen und den breiten klaren Strom, der an der Stadtmauer vorbeifloß. Wie oft hatte er an seinem Ufer gesessen und geangelt! Und die Kirchthurmspitze von St. Agatha, mit dem angrenzenden Treppengiebel des „Goldenen Lümmel“, wo er so manchen Schoppen Bier geleert – wie merkwürdig herrlich sich das Alles von oben ausnahm! Es that ihm ordentlich leid, daß das Schöne ihm so schnell aus den Augen schwand. Aber mit Blitzesschnelle ging’s aufwärts, an der Sonne und den Sternen vorbei durch eine, wie ein umgekehrter erweiterter Trichter sich emporspitzende prächtige Waldschlucht, deren Bäume – das Wasser lief ihm im Munde zusammen! – dicht mit Braunschweiger Würsten, Schinken, Aachener Printen, gebratenen Gänsen und Punschsyrupflaschen belaubt waren, bis unter ein zweites, schöneres, anscheinend größeres, helleres Himmelsdach. Die Sterne und Planeten dieses Firmamentes hatten die buntesten Farben und Formen. Sie flammten gelb, grün, roth, blau, braun, schwarz und weiß, violett und bronzen, in Quadrat-, Dreieck-, Ring-, Raketen- und Guirlandengestalt, ein Feuerwerk, wie Jeremias so herrlich es nie gesehen, selbst nicht vor fünfundzwanzig Jahren, bei dem ersten und letzten Schwatzhausener großen Sängerfeste. Immer weiter, wohl eine halbe Stunde, flog der todte Schneidermeister durch diesen Zauberhimmel, bis er schließlich in einen Strom blendend rothen, wie vom Winde bewegten Lichtes kam, dessen Wellen ihn sanft emportrugen vor eine riesige, von oben bis unten mit glänzenden, nagelneuen Ducaten beschlagene Thür.

Prüfend betastete er das Ducatenthor mit den Händen. Es waren leibhaftige, echte Ducaten; er merkte es genau, wenn er auch nur einmal in seinem Leben, und das war an seinem Hochzeitstage, wo die Mutter ihm das Stück als Heckepfennig schenkte, einen solchen besessen hatte. Lange blieb ihm aber zur Bewunderung des Goldthores nicht Zeit; denn kaum hatte er es ein paarmal prüfend auf- und abgetastet, als es mit einem gewaltig dröhnenden Tone, welcher aus einer mächtigen Baßtuba zu kommen schien, aufsprang und sich sofort wieder hinter ihm schloß. Jeremias stand in einer mit tausend Engeln gefüllten, edelsteinbesäeten, säulengetragenen, hochgewölbten Vorhalle. Sie war wohl zwanzigmal so hoch, wie das Chor der St. Agatha-Kirche. Am Eingange saß auf einem rothen Plüschstuhle an einem kleinen, perlmuttereingelegten Tischchen, wie sie der Schreinermeister Burr, Jeremias’ Nachbar, so theuer verkaufte, ein alter, verschrumpfter Greis mit einem mächtigen Schlüsselbunde vor sich.

„Ah, Jeremias Lump!“ sagte der Greis, „bist Du auch da?“

„Zu dienen!“ erwiderte Jeremias unter tiefer Verbeugung, als ob er den Hut lüften wollte, nach seinem Kopfe greifend. „Habe ich die Ehre, Seine Gnaden Herrn Sanct Peter – –“

„So ist mein Name!“

„Wo ist denn meine Frau, gnädiger Herr Petrus?“

„Deine Frau? Ja, die ist im Frauenhimmel.“

„Im Frauenhimmel?“ echote Jeremias erstaunt. „Giebt es denn hier für die Weiber einer besondern Himmel?“

„Natürlich!“ versetzte Petrus. „Sonderbar, daß Du das nicht weißt. Wenn Du aber Dein Weib einmal sehen willst, so soll’s Dir vergönnt sein.“

Der Heilige winkte einem nebenan stehenden Engel, welcher Jeremias unverzüglich beim Arme nahm und ihn durch die Halle über eine hohe Marmortreppe an eine kleine Thür führte, in deren Mitte ein Schiebfenster sich befand.

„Sieh’ hin!“ sagte der Engel. Jeremias guckte durch das kleine Fenster und erblickte in einem endlosen, mit starkem Gänsebratendufte gewürzten Saal tausend und abertausend weißgekleidete Frauen auf goldenen Bänken, phantastische Handarbeiten machend, wozu sie Lieder sangen, so seltsam hell, so überirdisch kräftig, daß er fast betäubt davon wurde. Je länger er hinschaute, desto unermeßlicher schien ihm der Raum, desto zahlreicher die versammelten Weiberschaaren. Die letzten Reihen erblickte er nur als weißen Nebel, woraus hier und da, wie aus einer Weihrauchwolke, ein paar verschwommene Köpfe sichtbar wurden. Die Unendlichkeit des Saales erfüllte ihn mit einem gewissen Grauen, welches nur durch die stumme Befriedigung darüber gemildert wurde, daß die himmlischen Arbeiterinnen keine einzige Nähmaschine benutzten. In einer der mittleren Reihen saß auch seine Frau.

„Evchen!“ rief Jeremias. „Evchen! Evchen!“ rief er noch einmal aus Leibeskräften. Aber Evchen hörte und sah nicht.

„Die kennt mich ja gar nicht mehr,“ sagte Jeremias, dem Engel zugewendet.

„Das darf Dich nicht wundern,“ versetzte dieser. „Die seligen Geister dieser Orte sind aller Erinnerung an die Erdenwelt bar.“

„In welchen Himmel komme ich denn?“ fragte Jeremias.

„Du? – Du kommst wahrscheinlich in den Armenhimmel.“

„Wie viele Himmel giebt es denn eigentlich hier?“

„Das weißt Du auch nicht? Sechs Himmel haben wir. Einen für die genialen Menschen, einen für die Talentvollen und einen für die Armen im Geiste, und zwar für beide Geschlechter immer einen besonderen – das macht zusammen: sechs.“

„Und ich soll in den letzten?!“ rief nun Jeremias etwas gereizt.

„Ja, es sei denn, daß Du auf Erden eine besonders hervorragende geistige That vollbracht hättest.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 875. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_875.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2021)