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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wohl that ihm dann das milde, durch das saftige Grün der Blätter gedämpfte Licht, wie wohl der Anblick der Spatzen und Tauben, die sich auf dem glänzenden Spielplatz herumtrieben und von den wurmstichigen Gesimsen die ausgestreuten Brodkrumen wegnaschten! Und erst des Nachts, wenn der Mond die blanken Schindeln in eine flüssige, bläulichweiße Metallmasse zu verwandeln schien – wie gern blickte er dann durch das kleine enge Fenster hinaus und sah Hitzepitz, seinen getreuen Kater, lustige schwindlige Promenaden ausführen.

Jeremias Lump hatte sich in allen Fährlichkeiten des Lebens eine gewisse humoristische Ader zu wahren gewußt. In den letzten Tagen aber schien ihn dieselbe zur großen Betrübniß Lieschen's gänzlich verlasse zu habe. Der Rock, den er da vor sich hatte, gehörte dem Küster von St. Agatha, der morgen, am heiligen Neujahrstage, in diesem neuen Kleidungsstück Gott seine würdige Persönlichkeit beim Hochamte als wohlgefälliges Brandopfer entgegenbringen wollte. Der Rock mußte also heute noch abgeliefert werden. Schon zweimal vierundzwanzig Stunden hatte der alte Meister seine runzligen, kunstfertigen Finger ununterbrochen über den braunen Tüffel gleiten lasse. Eine Nähmaschine besaß er nicht, und würde er auch, selbst wenn er sie besessen, nicht angewendet haben – „aus Princip nicht!“ wie er zu sage pflegte. Jeremias war ein geschworener Feind der Nähmaschine. Er hielt es mit der alten, soliden Handarbeit, und damit hielt es der Küster ebenfalls – darum hatte der ihm auch den neuen Winterüberzieher in Auftrag gegeben.

Zu jeder anderen Kalenderzeit würde Jeremias durch seine gelungene Kunstleistung entschieden beglückt gewesen sein. Aber heute! – Die letzten zwei Thaler, die er von den Ersparnissen des verstrichenen Sommers erübrigt, waren vor ein paar Tagen heimlich dazu verwendet worden, Lieschen, die mit dem Neujahrstage auch ihren Geburtstag feierte, Stoff zu einem neuen Sonntagskleide zu kaufen. Er mußte ihm doch etwas zum Geburtstage schenken, dem guten, treuen Kinde, und das Kleid hatte es schon lange nöthig, so nöthig wie Brod. Die große Flasche Punschsyrup, die er seit der Verheirathung mit seiner lieben Frau - sie lag nun schon sieben Jahr auf dem Kirchhof die Selige! – in Gesellschaft seines geliebten Töchterleins und einiger guten Freunde am Sylvesterabend regelmäßig leerte, stad diesmal noch im Schaufenster des gegenüberwohnenden Colonialwaarenhändlers, der Gänsebraten, den Lieschen so schmackhaft mit Kastanien und Aepfelschnitzeln zu schmoren wußte – das hatte sie von ihrer Mutter gelernt! – lag noch beim Geflügelverkäufer, und er, Jeremias Lump, der ehrbare Schneidermeister, der sich ordnungsmäßig vom Lehrling zum Gesellen, vom Gesellen zum Meister emporgeschwungen, der seine vorgeschriebenen drei Jahre in ehrlicher Arbeit auf der Wanderschaft zugebracht und noch nie eine Naht genäht hatte, die von selbst wieder aufgegangen, er hatte nur noch sieben und einen halben Silbergroschen – nach Mark und Pfennigen rechnete er nie – baares Geld in der oberen Kommodenschublade liegen. Der Küster bezahlte sehr unpünktlich; auf den Arbeitslohn für den Ueberzieher konnte er also nicht rechnen.

Jeremias warf über die runden Gläser seiner uralten, aus der Spitze seiner knochigen Nase hockenden Hornbrille einen verstohlenen, flüchtigen Blick auf seine blonde Tochter. Die saß am unteren Ende des Werktisches auf einem rohen Holzstuhl und stickte an einem Teppich für das Tapisseriegeschäft, für das sie, seit sie aus der Elementarschule entlassen war, beständig arbeitete. Einen Augenblick stieg in Lump der gottlose Gedanke auf, sein Kind zu fragen, wie viel es für die Arbeit erhalte und wann es den Lohn verlangen könne, aber entrüstet über sich selbst, drängte er diese Idee sofort wieder zurück. Wußte er doch, daß das Mädchen mit jedem Stich, den es da machte, auch ein lange ersehntes Glück zusammennähte; hatte er doch selbst ihm ein- für allemal gesagt, daß jeder Groschen, den es durch eigene Arbeit verdiene, zu seiner Aussteuer benutzt werden sollte. Er selber hatte ja nichts außer dem Wenigen, was er mit Nähnadel, Scheere und Bügeleisen erwarb, und Fritz, der Steinhauergeselle, Lieschen's Bräutigam, hatte auch nichts. Mit schmerzlich verzogenem Munde kraute Meister Jeremias sich mit der mageren Linken hinten in dem grauen Haarbüschel, der wie ein altes verwittertes Strohdach über seine schäbige Cravatte herunterhing, und wischte sich mit dem wachs- und staubgeschwärzten Zeigefinger der Rechten unter seiner Hornbrille über die Augendeckel. Er wußte nicht, wie es eigentlich kam, aber der Gedanke an den Punschsyrup, den Gänsebraten und Lieschen's Stickerei machte ihn so confus, daß er den Ueberzieher wie in einen wogenden Nebel gehüllt erblickte. Gewaltsam raffte er sich empor und nähte das Knopfloch fertig. Dann schritt er zum feurig leuchtenden Ofen, nahm den glühenden Bolzen heraus, schob diesen mit der verbogenen Feuerzange in das Bügeleisen, bügelte die Knopflöcher, nachdem er sie mit einem Mund von Wasser etwas angefeuchtet, glatt, hing den Rock, mit dem Futter nach außen, an das Kleiderreck und legte sich, so lang er war – er war aber nicht sehr lang, der Alte – mitten unter die Tuchabfälle und Flicklappen auf den Werktisch.

„Weck’ mich um sieben Uhr, Lieschen!“ sagte er.

„Soll ich Dir ein Kopfkissen holen, Vater?“

„Nein.“

Jeremias krümmte die dünnen Beine zusammen, legte den Kopf, gegen die Tischplatte geneigt, auf die beide Vorderarme, sodaß Lieschen sein Gesicht nicht sehen konnte, und weinte.

Das kam von den schlechten Geschäftsverhältnissen, von der fabrikmäßigen Nähmaschinenarbeit, die einem ehrlichen, soliden Handwerksmann den letzten Bissen Brod fortschnappt! Hatte er jemals in einem Winter so wenig Arbeit gehabt, jemals in seinem Leben in einem ganzen lieben langen Jahre so wenig erübrigt? Flickarbeit, ja die kam vollauf, aber ein neuer Anzug oder ein neuer Ueberzieher, Sachen, an denen noch etwas zu verdienen war, die konnte er zählen. Hätte er mehr zu thun gehabt, er würde etwas Anderes gethan haben, als dem frommen Wühlhuber seinen Paletot zu machen. Er hatte auf den Küster nie besonders viel gehalten. Seit vorigem Herbst aber, wo er im „Goldenen Lümmel“ mit ihm so hart an einander gerathen, war seine Abneigung gegen ihn noch gewachsen. Jeremias hatte an dem betreffenden Abende eines seiner politischen Lieblingsthemata: die ungerechte Vertheilung der Glücksgüter, erörtert, worauf der dicke Küster, ein salbungsvolles Gesicht schneidend, mit einer Lieblingsphrase des städtischen Wochenblättchens bemerkte: Jeremias sei „socialdemokratisch angehaucht“ und werde wohl auch einmal, wie Bebel und Liebknecht, mit dem Zuchtpolizeigefängniß Bekanntschaft machen. Jeremias war darauf in eine entrüstete Philippica ausgebrochen. Er hatte betheuert, daß das Zuchtpolizeigefängniß in unserer Zeit für einen ehrlichen Kerl gar keine Schrecken mehr besitze, hatte es für eine Ehre erklärt, „socialdemokratisch angehaucht“ zu sein, und sich dann über Berechtigung und Ziele der deutschen Socialdemokratie in einer so beredten, bierbegeisterten Weise ausgesprochen, daß die Mäuler der friedliebenden Stammgäste sich immer weiter öffneten, der Küster, ohne sein Glas zu leeren, mit einer bezeichnenden, auf Jeremias gemünzten Handbewegung nach der Stirn heimwärts eilte und der Henkel des Bierseidels, womit Jeremias seine Rede-Absätze laut aufklopfend interpunktirte, schließlich bei einem gar zu pathetisch auf den Tisch gestoßenen Ausrufungszeichen zerbrochen in seiner Hand stecken blieb.

Unrecht hatte der fromme Wühlhuber mit seiner Bemerkung nicht. Er hatte Recht. Jeremias aber hatte auch Recht. Jeremias, der im Jahre Achtundvierzig, eine alte Vogelflinte von seinem seligen Vater in der Hand, auf einer leibhaftigen Barricade gestanden, der Lassalle vor Gericht gesehen und den herrlichen Professor Gottfried Kinkel in einer Volksversammlung sprechen gehört – Jeremias war jetzt der Socialdemokratie mit Leib und Seele ergeben, und wenn er keinem socialdemokratischen Vereine angehörte oder den „Vorwärts“ nicht hielt, so lag das lediglich daran, daß ein solcher Verein in Schwatzhausen nicht existirte und er für das genannte Partei-Organ das Abonnementsgeld nicht erschwingen konnte. Dafür hingen aber über seiner Kommode um den zerbrochenen Rasirspiegel in säuberliche Lithographie – er hatte sie vom Schulmeister Muger gegen ein paar Flickarbeiten in Zahlung genommen – die Portraits von Kinkel, Freiligrath, Struve, Hecker und Lassalle. Dafür standen aber auf seinem Kleiderspind neben Schiller's sämtlichen Werken – die „Phantasie an Laura“ konnte er noch von seinem Brautstand her wörtlich auswendig – dem Gebetbuch seiner seligen Frau und Lieschen's Schulbüchern drei ganze Jahrgänge der Kölner „Rheinischen Zeitung“ von 1847, 1848 und 1849, sowie ein dicker, mit starker schwarzer Knopfseide zusammengehefteter Band revolutionärer Flugschriften, Aufrufe, Reden und Gedichte. Dafür aber lag in der mittleren Kommodenschublade, wozu er den Schlüssel stets in seiner linken Westentasche trug, unter den Hemden

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