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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Also pack’ Dir nur etwas zusammen für die Weihnachtsbescherung in der Schule, mein Kind!“ sagte er.

„Für die Weihnachtsbescherung in der Schule?“ rief Gustel entsetzt. „Wo denkst Du hin, Papa, dafür würde es doch nicht langen – das ist auch schon besorgt.“ Dazu warf sie als kleine Feinschmeckerin einen Blick voll tiefer Verachtung auf die empfohlenen unscheinbaren Pfeffernüsse. „Nein, die Tüte hier und das Lebkuchenherz will ich dem kleinen Schornsteinfegerjungen schenken, der draußen die Esse kehrt. Denke Dir nur: er heißt auch Klauer, wie wir. Friedrich Wilhelm Klauer, gerade wie auf dem Schilde über unserer Ladenthür steht. Ist er vielleicht ein Verwandter von uns?“

„Wir haben keine Verwandte, wenigstens keine, die uns etwas angehen. Du faselst wohl, Mädel?“

„Ich, ich dachte nur so – ’s ist doch ganz kurios. Ich wollt’s erst auch nicht glauben, aber er hat’s mir selbst gesagt, und ganz im Ernst. Dock steht’s, der Geselle soll ihm seinen Namen nämlich mit Zuckerguß auf das Herz schreiben. Wisch nicht mit dem Aermel darüber weg, Papa! Hier, hier steht’s.“ Dabei wies die Gustel aus das hölzerne, wohlbeschriebene Albumblatt der Tischplatte.

„Wie? Was?“ machte verdutzt der dicke Bäckermeister und starrte aus die bezeichnete Stelle.

„Frag’ ihn doch selbst, wenn er wieder kommt, um sein Herz zu holen! Wo bleibt er nur so lange?“

Der Meister wird immer aufmerksamer. Das blasse, aufgedunsene Gesicht erhält einen gespannten Ausdruck und die großen, runden wasserblauen Augen blicken fragend.

„Was spricht die Gustel da? Sonderbar und unerklärlich! Aber potztausend, wo steckt denn der verdammte Junge?“

Er erinnert sich mit einem Mal, daß er denselben ja gar nicht wieder gesehen hat, auch hat ihm Niemand Bezahlung abverlangt. Plötzlich packt ihn ein Gedanke. – Am Ende ist der Schornsteinfeger noch gar nicht fertig geworden mit seiner Arbeit, und er – der Meister – hat dem Gesellen befohlen, den Backofen von Neuem zu heizen.

„Da soll doch gleich …“

Der Meister ist hinaus, so schnell es seine Corpulenz erlaubt; denn es läuft ihm eiskalt über den Rücken, und als er in’s Backhaus tritt, rührt ihn vor Entsetzen fast der Schlag.

Neben dem geöffneten Schornsteine stehen ja noch die abgestreiften Holzpantoffeln des kleinen Essenkehrers, des armen Jungen – der seinen Namen trägt. Der Meister schwankt; ein Blick auf den vorhin gescholtenen trägen Gesellen, der vermutlich die Arbeitspause benutzt und ein paar Augen voll Schlaf genommen hat und darum erst jetzt das Holz zum Heizen herbeiträgt, giebt ihm glücklich die Fassung einigermaßen zurück. Noch ist’s hoffentlich nicht zu spät. Er eilt an die Maueröffnung und ruft mit Stentorstimme hinauf – schwache Antwort hallt zurück.

Und die breite Brust des Meisters athmet befreit, auch hat er alsbald glücklich seine Ruhe und Geistesgegenwart vollends wiedergefunden und commandirt nun wie ein Feldmarschall. Zuerst schickt er zum Meister des Verunglückten und läßt ihm den Vorfall melden. Aber die Gefahr und die eigene Ungeduld sind zu groß – er muß selbst Hand anlegen. Er holt Axt und Beil herbei und eilt mit dem Gesellen zur ersten Etage hinauf. Dort wird durch Klopfen und Rufen bald die Stelle festgestellt, wo der kleine Schornsteinfeger eingeklemmt ist. Dann schlägt man die Mauer ein, um den Knaben herauszuziehen

Er ist ganz erschöpft und vermag nur einzelne abgebrochene Worte zu sprechen, aber, obgleich der eigentliche Zusammenhang vorläufig noch unaufgeklärt bleibt, lassen Name, Alter und eine gewisse Familienähnlichkeit den Meister nicht mehr zweifeln, daß der arme, vor Kälte und überstandener Todesangst zitternde Knabe dort hier in’s warme Nest gehört, weil er das hinterlassene Kind seines einzigen, elend zu Grunde gegangenen Bruders ist.


Armes trotziges – wunderbares Menschenherz! Wer vermißt sich, dich auszukennen? Bist du hart wie Stein, so zermalmt dich plötzlich ein gewaltsamer Eingriff des Schicksals; bist du kalt wie Eis, so schmilzt dich glücklich die Reue und die Liebe. Denn dicht neben Neid und Geiz, Rachsucht und ungeahnter Leidenschaft, die deine Tiefen bergen, schläft sanft und leise auch der Gottesfunken, den ein gütiger Schöpfer als schönstes Erbteil in dich legte und glücklicher Weise so stark und kräftig erschuf, daß es oft nur eines Luftzuges bedarf, um ihn zu neuem Leben zu erwecken – Der heilige Abend war im Bäckerhause wie alljährlich in vorbereitender Uebergeschäftigkeit vergangen und der Meister hatte wegen des aufregenden Vorfalles nur mit seiner Frau unmittelbar nach demselben stille Rücksprache genommen.

Als aber die Schatten der heiligen Nacht erbleichten und im Osten der kurze späte Wintertag erglühte, als die purpurn durchleuchteten Rauchsäulen gleich stillen, frommen Dankopfern über den schneebedeckten Dächern emporwallten und dazu das „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ aus den gefüllten Kirchen erklang, da stand der Meister stattlich geputzt und mit Hut und Stock zum Ausgehen bereit. Und als er nach einer Stunde von seinem Ausgange zurückkehrte, führte er einen hübschen, festtäglich geputzten Knaben an der Hand, dessen kluger bescheidener Ausdruck unendlich sympathisch berührte. Aus seinem Munde hatte er alles Wissenswerte vernommen – es fehlte kein Glied mehr in der Kette. Der in Haß und Groll geschiedene Bruder war wirklich in der Fremde verunglückt, seine Frau aber, das Evchen die immer zart gewesen und lange gekränkelt, hatte nur eine Sehnsucht gekannt: zurückzukehren nach der Vaterstadt, wo sie einst glücklich gewesen war und hoffen durfte, weniger verlassen zu sein. So hatten Mutter und Kind wieder eine Wohnung in der Vorstadt bezogen, mitten unter den alten Nachbarn. Aber schon nach sehr kurzer Zeit war die Mutter gestorben – an Lungenblutung, wie der Arzt gemeint. Der Fritz aber war in das Waisenhaus gekommen und später einem braven Meister überantwortet worden.

Die Gustel machte natürlich große glückliche Augen, als ihr der Vater den Bruder zuführte. Aber auch die Meisterin nahm ihn mit aufrichtiger Freundlichkeit auf. Er saß Mittags zwischen ihr und der Gustel, als ob er immer da gesessen und an den Platz gehöre. Er fühlte sich ganz zu Hause in dem warmen Bäckerheim. Der jüngste Lehrbube aber, der unten an der Tafel saß, sah über den überladenen Teller hinweg bis hinaus zu dem Platze seines heut so freundlich dreinschauenden Herrn und dachte pfiffig vor sich hin lächelnd:

„Ich möchte nur wissen, was unser Meister eigentlich Schönes zu Weihnachten erhalten hat?“

Und als nach all den winterlichen Festtagen das neue Jahr alles in’s alte Geleis gelenkt hatte, ging der Fritz in sauberer Alltagskleidung und rothumränderter Mütze wieder in die Schule, wie ehemals, als Vater und Mutter noch lebten – sein Herzenswunsch war ihm plötzlich, wie über Nacht, erfüllt worden.

Heute ist er ein ganzer Mann geworden und dazu wirklich ein tüchtiger Baumeister, wie er sich gewünscht hat. Die Gustel aber ist seine Frau und das schöne Haus hat er ihr längst gebaut.

Die traurige glückliche Katastrophe seiner frühen Jugendjahre pflegt er in vertrautem Freundeskreise gern zu erzählen. Auch ich erlauschte sie einst aus seinem eigenen Munde.





Für das Enkelchen.

Es dunkelt schon – kaum ward es heute Tag;
Am Berghang liegt der Schnee mit schwachem Blinken.
Großvater steigt hernieder durch den Hag
Und sieht vom Thal des Dorfes Lichter winken.

5
Die Luft ist feucht und kalt; gemächlich wallen

Die Flocken durch das dürre Astwerk her,
Sein Pfeifchen dampft – vorsichtig schreitet er,
In schneebegrabner Wegspur nicht zu fallen.
Ein Tannenbaum auf seiner Schulter liegt

10
Ein Prachtstück, rund geformt und ohne Lücken:

Der Ast, der Fink und Meise sonst gewiegt,
Soll sich mit Licht und buntem Naschwerk schmücken.
’S ist hohe Zeit – der Weihnachtsabend dämmert;
Großvater lächelt heimlich vor sich hin;

15
Zum warmen Stübchen eilt voraus sein Sinn

In jener Schmiede, wo es drunten hämmert.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 860. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_860.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)