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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Das Innere der Stadt sticht freilich voll ihrem vorteilhaften Aeußeren gewaltig ab. Wir finden wieder, wie in allen orientalischen Städten, ein enges, krummes Straßengewirr, ruinenartige Häuser, viel Schmutz und Verkommenheit, ja nicht einmal den primitivsten Anfang westeuropäischer Gesittung und Cultur. – Für die Bulgaren ist indeß Tirnowo reich an historischen Erinnerungen. Es war die Residenz ihrer mächtigen Zaren, die von hier aus ihre siegreichen Kriegszüge gegen Constantinopel unternahmen. Daß Bulgarien einst ein mächtiges südslavisches Reich gewesen, darüber herrschen keinerlei Zweifel. Die Geschichte meldet uns, daß zur Zeit des oströmischen Kaiserthums mächtige Bulgarenheere wiederholt vor den Mauern Constantinopels erschienen und die griechischen Kaiser zu Friedensschlüssen und Tributzahlungen zwangen. Bei Tirnowo sollte aber auch das Verhängniß über das bulgarische Reich und Volk hereinbrechen; denn hier war es, wo das wild anströmende, Alles vor sich niederwerfende Türkenheer die Bulgaren zur Hauptschlacht nöthigte, in der Letztere ihre Unabhängigkeit und Freiheit verloren, um Jahrhunderte lang von ihren Bezwingern als rechtlose Sclaven behandelt zu werden. Wohl im Hinblicke auf diese geschichtliche Erinnerung ist auch noch heute der Haß der Bewohner Tirnowos gegen die Türken ein überaus heftiger. Deshalb haben auch seit dem jüngsten Kriege, der die Errichtung des gegenwärtigen selbstständigen Fürstenthums zur Folge hatte, fast alle Türken Tirnowo verlassen; nur ein geringer Rest, den untersten Volksschichten angehörig, ist geblieben und hat sich in die neue Ordnung der Dinge gefügt.

Eine Vorstadtstraße in Sofia.
Originalzeichnung von J. J. Kirchner.

Von Tirnowo gelangt man in einem Tage nach Grabowo. Der Weg dahin führt abwechselnd durch wilde Felsschluchten, ödes Gestein und üppige Thalgründe, in denen Maulbeerbäume und köstliche Trauben reifen. Je mehr man sich Grabowo nähert, desto häufiger werden die Weinberge. Einen höchst freundlichen, ja im Vergleiche zu den bisher geschauten bulgarischen Städten und Ortschaften geradezu überraschenden Eindruck macht das am Wege gelegene Städtchen Trenowo, das zumeist aus nettgebauten, reinlichen, von wohlgepflegten Gärten umgebenen Holzhäusern besteht. Wenn man diese Civilisationsoase erblickt, so glaubt man gar nicht in Bulgarien oder überhaupt im europäischen Orient zu sein, und es wäre vielleicht interessant nachzuforschen, warum gerade die Bewohner Trenowos in so auffälliger Weise den modernen Culturideen geneigt sind.

Grabowo, das im jüngsten Kriege als Zugangspunkt zum Schipkapasse eine hervorragende Rolle gespielt, ist bezüglich seines Aeußeren zwar weniger freundlich, aber man findet dort ganz gute Unterkunft und mancherlei Bequemlichkeiten, die den übrigen bulgarischen Städten fremd sind. Das erklärt sich vielleicht daraus, daß Grabowo ein bedeutender Industrie-Ort Bulgariens ist, in welchem zu gewissen Zeiten sich viele fremde Kauf- und Geschäftsleute einzufinden pflegen. Unter den industriellen Erzeugnissen der Stadt steht namentlich die Fabrikation von blanken Waffen, zumal Säbel- und Handscharklingen obenan, welche im ganzen europäischen Orient gesuchte Artikel sind.

Von Grabowo aus ist der durch die jüngsten Kriegsereignisse historisch geworbene Schipkapaß leicht zu ersteigen. Die Straße, die seit dem Kriege besser geworden, aber noch immer Vieles zu wünschen übrig läßt, steigt in fortwährenden Krümmungen an steilen Felsabhängen und durch wilde, oft beträchtlich tiefe Schluchten hinan.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_849.jpg&oldid=- (Version vom 26.12.2022)