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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Heiliger Gott! Ihm gerade gegenüber schüttelte sich eine Eiche, wie ein Mensch sich gegen den Griff einer übermächtigen Faust wehrt. Sie erschlug ihn, wenn sie fiel.

Er ließ sich auf die Erde nieder und kroch auf Händen und Füßen, so platt wie möglich an den Boden gedrückt, durch das Gestrüpp am Wege. Seine Handschuhe platzten, zerrissen. Seine Hände bluteten. So gings nicht weiter; er mußte auf den Weg hinauf, und er. bewegte sich schräg hinüber auf die andere Seite. Noch war die Eiche nicht gestürzt; vielleicht hielt sie sich doch. Etwas geschützter kam es ihm hier drüben vor, als jenseits vor dem offenen Wege.

Ein anderer Eichenstamm, auf den sein Auge fiel, erweckte ihm Vertrauen. Breit wie eine dorische Säule stand er da, die geringe Zahl seiner Aeste bot dem Winde wenig Angriffsfläche. Er schleppte sich bis zum Fuße des Baumes und richtete sich dann auf.

Seine Lage war damit wesentlich verbessert. Der Sturm traf ihn nicht mehr direct; er war gegen fallendes Holz geschützt. Sein ganzer Körper schmerzte ihn. Aber einen Moment nur genoß er. das Gefühl der Erleichterung, dann brach es mit der Last eines dieser stürzenden Kolosse auf seine Seele nieder: Anne-Marie! In der Athemlosigkeit der letzten Minuten war der Gedanke an sie wie verschüttet worden; jetzt war er plötzlich das Einzige, was ihm Entsetzen einflößte. Was galt ihm die Zerstörung, die um ihn tobte! Was war er sich selber!

Er ließ sich wieder hinab und kroch auf's Neue am Boden hin. Mochte ihn ein Stamm zerschmettern - er wollte wissen, wie es um sie stand. Eine wahnsinnige Angst beflügelte seine Kraft. Minuten brauchte er, bevor er die Biegung des Weges erreichte, welche bisher dessen weiteren Verlauf seinem Auge entzogen hatte. Als er drüben war, schärfte er den Blick auf's Aeußerste; denn das Sehen war nicht eben leicht. Die ganze Luft schien körperlich geworden zu sein, wie strömendes Wasser, das Erde, Blatt- und Astwerk mit sich fortriß.

Er unterschied endlich einen mächtigen Baumstamm , welcher in einiger Entfernung quer über den Weg gestürzt war. Nirgends ein menschliches Wesen. Aber er mußte weiter.

„Anne-Marie!“ schrie er auf.

Bei dem gestürzten Baume lag es, lichtgraue Frauenkleidung, – diesen Moment hatte er weiter nichts gesehen. Er war niedergesunken, vergrub den Kopf in die Arme und stöhnte.

„Laß sie um Leben sein, Herr, der du im Sturme mächtig bist, laß sie leben – sie ist mein. Niemand hat ein Recht auf sie außer mir.“

Er nahm alle Seelen- und Körperkraft zusammen, und nun kauerte er neben ihr. Er nahm ihren Kopf auf die Hand; das schöne blonde Haar war halb aufgelöst. Die Wange fühlte sich todtkalt an – das konnte vom Winde sein. Er beugte das Ohr nieder – athmete sie oder nicht? In diesem Getöse war absolut nichts zu entscheiden. Die Augen waren geschlossen, die blassen Lippen leise geöffnet, daß die Zähne hindurchschimmerten; sie mußte ohnmächtig sein – mußte! Er wollte es so. Es war ja auch wahrscheinlich. Drei Schritt von ihr war eine Buche gestürzt, und der Stamm bis fast über den Weg hin glatt, ehe die Aeste begannen. Der Sturz konnte Anne-Marie nicht gestreift haben. Ueber ihr neigte sich dichtes Gestrüpp von Haselruthen, so dicht, daß ein mächtiger Ast, der dahinter aufragte, durch sie aufgefangen und festgehalten war. Wie Peitschenschnuren schlugen die Ruthen nieder und reichten doch nicht zu ihr hinab. Sonst war es nur schwaches Astwerk, was jenseits im Unterholze hing, fortwährend aufgejagt wurde und wieder zu Boden sank.

Sein verstörter Blick musterte die Riesenleiche der Buche. Die ausgerissenen Wurzeln mit dem durch sie zusammengehaltenen Erdreich ragten hinter dem Haselgestrüpp empor; sie mußten eine Scheibe bilden, aus deren Centrum der Stamm sich streckte; denn dieser lag nicht direct auf dem Wege, sondern etwas über ihm, allmählich und erst drüben im Unterholz völlig sich der Erde nähernd. Diese Scheibe uns Wurzeln und Erdreich war wie ein sicherer Schirm zu verwerthen.

Curt nahm Anne-Marie mit beiden Armen, ihren Kopf an seiner Brust bergend, und begann rückwärts sich durch das Gestrüpp zu stemmen. Ließ der Sturm nach oder hatte sich seine Kraft verdoppelt? Er drang durch die wirre Schicht um Rande; weiterhin standen die Stauden nur vereinzelt. Unter unsäglicher Anstrengung hielt er sich mit der geliebten Last aufrecht, bis er am Ziele war. Dann ließ er Anne-Marie niedergleiten und sank erschöpft und keuchend, kalten Schweiß auf der Stirn, neben ihr in den Blattmoder.

Im Bereiche dieser Erdwand war es paradiesisch gegen draußen; sie und der kolossale Fuß der Buche über dem Paare schlossen vor allem jede ernste Gefahr aus. Curt wand ein Taschentuch um die rechte, am meisten verwundete Hand, nachdem er die Handschuhfetzen bei Seite geschleudert.

Nun nahm er die Bewußtlose wieder in seine Arme und bettete ihren Kopf so bequem wie möglich. Er hätte sie erdrücken können vor Wonne, als er sie athmen fühlte. Der Sturm sauste weiter – er wurde stumpf gegen die Wirkungen und Aeußerungen desselben; in tiefer Erschöpfung schloß er die Augen.

Er schlief nicht; seine Gedanken und Empfindungen tauchten nur in einer weichem geheimnisvollen Fluth von Glück unter.

Noch einiger Zeit blickte er plötzlich auf. Das war doch nicht der vorige Sturm mehr? Ein starker Wind, weiter nichts. Dieser Wind riß keine Baumkronen mehr herunter und entwurzelte keine Eichen. Näherte das Schreckniß sich seinem Ende?

Er fühlte sich stärker. Von seiner Brust herauf klangen die Athemzüge der Geliebten.

„Anne-Marie, meine süße Anne-Marie!“

Er rührte sich nicht. Noch hielt er das holde, ungelöste Räthsel in den Armen; noch durfte er glauben, sie sei die Seine. Wie lange? Wenn sie die Augen aufschlug, weinte sie vielleicht vor Scham und Schrecken – und Entrüstung.

„Mein Gott, gieb sie mir!“

Er faltete die Hände über der tiefer und tiefer Atmendem Dabei glitt ihr Kopf zurück in den Nacken; und der seine, noch immer ein wenig geöffnete Mund glänzte wie von Rubin verführerisch zu ihm, heraus. Er konnte nicht widerstehen.

„Vergieb mir, Anne-Marie!“

Der ernste bebende Mann neigte das Antlitz nieder, und seine Lippen berührten diese kühlen, thaufrischen Rosenblätter.

Da hob sich ihre Brust mit einem tiefen Atemzuge, und die aufgeschlagenen braunen Augen blickten wie aus einer andern Welt in die seinen.

„Ein Traum!“ flüsterte sie, und die Lider schlossen sich. Und dann sagte sie mit stillem Lächeln: „Liebster!“

Ueber Curt riß der Himmel von einander. Was er an Seligkeit und Glanz besaß, überstürzte ihn, durchrieselt ihn, hüllte ihn in eine Glocke von Licht.

„Anne-Marie,“ brachte er mit halb erstickter Stimme heraus und preßte sie an sich, und nahm ihren Kopf und küßte sie noch einmal. Sie küßte ihn wieder; sie schlang die Arme um seinen Hals, sah ihn trunken von Glück an.

„O Du liebster Mann! Du hast mich doch lieb.“ Und nun hing sie eine Weile schluchzend an seinem Halse. Der Aufregung war zuviel gewesen in diesen Tagen.

Dann ward Anne-Marie ruhiger. Sie dachte nicht an den Sturm, der wie unter einem Zauber in sanftem Wehen erstarb. Sie lächelte Curt glückselig zu, und er küßte ihr die Thränen von den Augen. Es fiel ihr nicht ein, sich aus seinen Armen zu lösen – und er hatte ein Gefühl, als müsse er ewig so sitzen. Dieser Becher ist da und kehrt nie wieder; warum ihn hastig leeren?

„Boddin! Fräulein von Lebzow!“ rief es an der Biegung des Weges drüben.

Es war die Stimme des Herrn von Pannewitz.

„Wollen wir antworten, Geliebte?“ lächelte Curt.

„Ja,“ nickte sie und hob sich schämig erröthend, indem sie sanft seinen Arm zurück drängte. Aber er nahm sie erst noch einmal fest an sich und küßte sie lange.

„Herr von Boddin!“

„Hier, Herr von Pannewitz!“

„Hurrah! Einen hätten wir.“

„Nein, gleich ein Paar! Hier haben Sie uns, Herr von Pannewitz, im Sturm zusammengeschleudert, zwei glückliche Leute, und da wäre denn auch wohl das Mittel gefunden, um den Onkel zu versöhnen –“

Sie waren draußen auf dem Wege angelangt, und Herr von Pannewitz streckte ihnen beide Hände mit einem Jodler entgegen; bei der Wegecke standen ein paar Gutsleute mit zwei Tragbahren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_844.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)