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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Theologe sich ausdrückt, in das Griechische, das andere in das Semitische zurückweist. Dieses Evangelium birgt die engherzigsten und weitherzigsten, die großartigsten und kleinlichsten Aussprüche in sich. Kein Buchstabe, kein Häkchen vom Gesetz soll vergehen, und wer, so wird mit offenbarer Beziehung auf Paulus hinzugefügt, eins von den kleinsten Geboten auflöst und die Leute also lehrt, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich. Im Gegensatz hierzu berichtet dasselbe Evangelium, daß Jesus seine Jünger, die das Sabbathgebot übertreten hatten, in Schutz nimmt und fordert, daß der neue Wein nicht in die alten Schläuche gefüllt werbe. Petrus wird im ersten Evangelium als der Felsen bezeichnet, auf den die Gemeinde gebaut werden soll, als der, der die Schlüssel zum Himmelreich hat, daß er binden und lösen könne für Himmel und Erde. Und doch berichtet gerade dieses Evangelium die schwächste Stunde des Petrus, die von den Paulinern mit besonderer Vorliebe mag hervorgehoben worden sein, die Stunde der Verleugnung, mit besonderer Ausführlichkeit. Mit echt rabbinischer Spitzfindigkeit wird aus zufälligen oder künstlichen Anklängen an alttestamentliche Worte die Erfüllung prophetischer Weissagungen gefolgert, und doch ist das Gesammtbild, das hier von Jesus entworfen wird, von imponirender Größe.

Am weitesten nach links steht das nach Lucas benannte Evangelium. Die Rolle, die in den beiden anderen Schriften dem Heidenthum zugewiesen wurde, fällt hier dem Judenthum zu. Jerusalem ist die prophetenmörderische Stadt. Das Christenthum hat von Hause aus die Bestimmung, über die Grenzen des Judenthums hinauszugehen. Dem Verlorenen wendet sich ganz besonders die Liebe zu, wenn auch der tugendstolze Pharisäer gerade aus den ihm nicht ebenbürtigen Heiden herniederblickt. Das dritte Evangelium enthält deshalb die universellsten und großartigsten Züge. Es hat uns die beiden Perlen unter den christlichen Gleichnissen überliefert, das vom barmherzigen Samariter, diesen Triumph der reinsten, über alle Schranken der Nationen und Confessionen hinübergreifenden Menschenliebe, und das vom verlorenen Sohn, den Triumph der den Menschen nur nach der Kraft seiner Sehnsucht schätzenden Gottesliebe.

Doch ist auch dieses den Pauliner so deutlich verrathende Evangelium keineswegs radical. Es hat ebenfalls die Stelle aufgenommen, welche die unbedingte Gültigkeit des Gesetzes, ja jedes Buchstabens in demselben, beansprucht. Es hält es ausdrücklich für nothwendig, zu erzählen, daß die Eltern Jesu alles an ihm gethan hätten, was im Gesetze vorgeschrieben sei. Das ist eben das Charakteristische dieses Katholicismus, welches auch schon bei den canonischen Evangelien bemerkbar wird, daß derselbe nicht Gegensätze wahrhaft vermittelt und in die höhere Einheit abhebt, sondern daß er die Gegensätze einfach durch kirchliches Decret zusammenwirft und es nun den Menschen überläßt, das Widersprechendste zusammenzudenken. Wer nicht darüber orientirt ist, wie diese ganz entgegengesetzten Anschauungsweisen, die sich in unsern Evangelien finden, in dieselben hineingekommen sind, muß nothwendig, sobald er denkend liest, bei der Lectüre dieser Schriften in Verwirrung gerathen.

Der katholisirende Charakter unserer Evangelien tritt auch nach einer anderen Seite hin deutlich hervor. Bei aller Verschiedenheit hatten die beiden ursprünglichen christlichen Richtungen doch etwas Gemeinsames in dem Glauben an die Verherrlichung Jesu. Dieser Glaube war nicht eine aus rein geistiger und sittlicher Grundlage erwachsene liebevolle Verehrung und Werthschätzung der Charaktergröße Jesu, sondern die durch das Medium der Christus-Visionen und des Auferstehungsglaubens vermittelte sinnliche Vorstellung eines persönlich zur Rechten Gottes erhöhten und im Lichtglanze himmlischer Majestät thronenden Messias. Es konnte nicht ausbleiben, daß dieser überirdische Glorienschein seine Strahlen auch auf die geschichtliche Erscheinung Jesu zurückwarf; denn auch hier lag es im Charakter des werdenden Katholicismus, beides, das historische Lebensbild und das in der Vorstellungsweise der Gemeinde lebende Messiasbild, in Eines zu verschmelzen. So erhielt das Lebensbild Jesu auch in den neutestamentlichen Evangelien jenen katholischen Heiligenschein des Wunderthäters, jene starren Züge des Himmelskönigs und des Weltenrichters, der, ganz wie in der Denkweise des Apokalyptikers, wiederkommen wird, um seine Feinde an den Ort der ewigen Qual zu senden.

Kopfschüttelnd stehst der moderne Mensch gerade vor diesen Zügen der neustestamentlichen Ueberlieferung. Sie verderben ihm den Geschmack auch an dem, was ihn sonst anziehen und erwärmen würde. Wir müssen eben bedenken, daß hier die in sinnlichen Bildern sich bewegende religiöse Vorstellungsweise der ältesten christlichen Gemeinden in die Evangelien selber hineingetragen ist. Jener überirdische Glorienschein, der in den canonischen Evangelien das Haupt des Nazarethanischen Zimmermannssohnes schmückt, ist nichts als der Ehrenkranz, den die glühende Verehrung der ersten Christen ihrem Meister geflochten. Die einzelnen Blätter dieses Kranzes sind verwelkt. Wir suchen die Hoheit des Menschen, auch des Menschen, der sich am liebsten des Menschen Sohn nannte, nicht in Mirakeln und im katholischen Heiligenschein, sondern in der Fülle sittlicher Ideen und großer, weltbewegender Gedanken, die sein Geist umfaßte. Aber auch die verwelkten Blätter sind werthvolle historische Denkmäler, wenn auch nicht vom Leben Jesu, so doch von der Denkweise der ersten Christen, von einer religiös mächtig erregten Zeit von stürmisch wogender Begeisterung.

Es kann uns nun nicht mehr Wunder nehmen, daß unsere Evangelien auch in den Berichten über die Geburt und Abstammung Jesu Widersprechendes zusammenstellen. Jesus erscheint durch die aufgeführten Stammbäume als Sohn Joseph’s und der Maria, durch die eingefügten Kindheitslegenden und Vorgeschichten lediglich als Sohn der Maria. Die Quellenschrift hat von einer Geburt aus der Jungfrau nichts gewußt, und die ältesten Christen, unter ihnen noch Paulus, kannten Jesum nur als Abkömmling des Davidischen Geschlechts, und die Spuren dieser Ueberlieferung finden sich auch noch mehrfach in unseren Evangelien. Je mehr aber Jesus dadurch vollständig auf dem Boden des Judenthums verblieb, desto mehr mußte die antijudaistische Partei diese Tradition umbilden, um Jesum auch schon durch seine Abstammung dem Rahmen des Judenthums zu entreißen. Unsere Synoptiker erweisen sich aber dadurch als Erzeugnisse des erst werdenden Katholicismus, daß sie noch beiden kirchlichen Richtungen Rechnung tragen

Werfen wir nun noch einen flüchtigen Blick auf zwei interessante Schriften, die ebenfalls deutlichen Spuren des Kampfes der Parteien an sich tragen gleichzeitig aber, ganz wie die drei ersten Evangelien, schon über die Zeit der schroffen Gegensätze hinausweisen! Zuerst ist da der Hebräerbrief, eine Schrift, die lange Zeit irrtümlicher Weise dem Paulus zugeschrieben wurde, während heute kaum noch ein Mensch die paulinische Abfassung des Briefes zu behaupten wagt. Die Schrift vertritt ohne Zweifel die Richtung des Paulinismus, versucht aber, wie schon der Name erkennen läßt, diese Richtung auch der Partei der Hebräer annehmbar zu machen. Paulus hatte im Römerbrief denselben Versuch gemacht. Aber die Rolle, die er von seinem extremen Standpunkte aus dem jüdischen Gesetze zuertheilt hatte, daß dasselbe nämlich gegeben sei, um die Sünde hervorzurufen und dem Menschen zum Tode zu gereichen, konnte wenig versöhnend auf die Anhänger der Gesetzesreligion wirken.

Der Verfasser des Hebräerbriefes schlägt dagegen den Weg ein, daß er eine innere Einheit zwischen den Institutionen des mosaischer Cultus und dem Christenthum nachzuweisen sucht. Die Ersteren sind typische, sinnbildliche Hinweisungen auf das Letztere. Sie stehen zum Christentum nicht in einander abschließendem Gegensatz, sondern verhalten sich zu ihm wie das Unvollkommene zu dem Vollkommenen.

Eine ganz anders geartete Schrift ist der dem Jacobus zugeschriebene Brief. Er will durchaus antipaulinisch sein; er erhebt directen Protest gegen die Hauptlehre des Paulus, daß der Mensch ohne Berücksichtigung des Gesetzes lediglich durch seinen Glauben gerecht werde, und behauptet dafür geradezu, der Mensch werde nicht durch den Glauben, sondern durch seine Werke gerecht. Aber der Einfluß der Richtung, die der Brief bekämpfen will, auf den Brief selber ist doch unverkennbar. Das Gesetz wird ja als das Gesetz der Freiheit bezeichnet. Gemeint ist also nicht mehr der Buchstabe, sondern der in den freien, selbstbewußten Willen des Menschen abgenommene Geist des Gesetzes. Damit aber berührt der Jacobus-Brief deutlich den paulinischen Gedankenkreis.

Wir sehen also, wie da, wo die traditionelle Orthodoxie nichts als die starre Einförmigkeit unfehlbarer Glaubensregeln erblickt, in Wirklichkeit ein reiches geschichtliches Leben, ein mächtiges Kämpfen und Ringen der Geister vorhanden ist.

Welchen vorläufigen Abschluß dieser Kampf im Neuen Testament genommen hat, werden wir nun noch in einem weiteren und letzten Artikel sehen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_835.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2022)