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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Hauptzügen klar erkennbares Bild von der Entstehung der Evangelien zu gewinnen.

Ein wissenschaftliches Verständniß der neutestamentlichen Evangelienliteratur war schlechterdings unmöglich, so lange man annahm, daß alle im neutestamentlichen Canon enthaltenen vier Schriften unter sich wesentlich eins wären, und sie dementsprechend nach ein und demselben Maßstabe behandelte. Erst als man zu der Ueberzeugung kam, daß die vierte, nach Johannes benannte Evangelienschrift durchaus von den drei ersten abgesondert und für sich behandelt werden müsse, war der entscheidende Schritt zu einer wissenschaftlichen Erforschung der Evangelienfrage geschehen. Man entdeckte, daß, während die drei ersten, nach Matthäus. Marcus und Lucas benannten Schriften, ihrer Eigentümlichkeiten unbeschadet, in wesentlichen Punkten übereinstimmen, zwischen diesen dreien und der vierten die bedeutendsten Differenzen vorwalten. Die drei ersten, wegen ihrer Uebereinstimmung mit dem technischen Namen der „Synoptiker“ bezeichneten Schriften verlegen die Hauptthätigkeit Jesu nach Galiläa und lassen ihn erst kurz vor seinem Tode, bei der Reise zum letzten Passah, nach Jerusalem kommen. Er ist bis zu diesem Zeitpunkt in Jerusalem fast unbekannt; denn bei seinem Einzuge in die Stadt fragt die erstaunte Menge: „Wer ist denn dieser?“ und die Reisegefährten Jesu geben erst über ihn nähere Auskunft. Nach dem vierten Evangelium dagegen fällt die Hauptwirksamkeit Jesu in die Hauptstadt und ihre nächste Umgebung, wo er die unglaublichsten Wunderthaten verrichtet haben soll, also unmöglich unbekannt geblieben sein könnte. Auch ist das Christus-Bild, das der vierte Evangelist uns zeichnet, ein wesentlich anderes, als das der drei ersten.

Bei diesen beginnt Jesus mit der Predigt vom Gottesreiche. Seine Person tritt in den Hintergrund, und nur gegen das Ende seines Lebens berührt Jesus auch die Frage nach der messianischen Bedeutung seiner Person. Bei jenem dagegen ist die Messianität Jesu der Ausgangspunkt. Die Gleichnißrede ist völlig verschwunden und hat den Reden über die höhere Würde Jesu Platz gemacht. Am eclatantesten ist aber die Verschiedenheit in der Angabe des Datums, an dem Jesus gestorben sein soll. Bei den Synoptikern hat Jesus am 14. Nisan, am eigentlichen Passahfeste, das Nachtmahl gefeiert; der 15. ist sein Todestag. Nach dem vierten Evangelisten hat er überhaupt das Passah nicht mehr mitgefeiert. Er ist am Tage vorher mit seinen Jüngern zusammen gewesen und am 14. Nisan gekreuzigt worden. Diese Differenz, die auch in den Kämpfen der Kirche zu Tage tritt, läßt sich nicht mehr mit der wohlfeilen Auskunft gegenseitiger Ergänzung abfertigen; sie verlangt eine klare Entscheidung für die eine oder die andere Angabe. Unter dem Einflusse der Schleiermacher’schen Gefühlstheologie entschied man sich eine Zeitlang für das vierte Evangelium mit seinem mystischen Christus-Bilde. Ja es gehörte in den Kreisen der Schleiermacher’schen Schule zum guten Tone, auf die drei ersten Evangelien, die doch im Wesentlichen nur einen einfachen galiläischen Rabbi zeichnen, mit einem gewissen Gefühl der Geringschätzung hernieder zu blicken. Die neuere Kritik der Tübinger Schule kehrte indeß das Verhältniß um, und es gehört jetzt zu den sichersten Ergebnissen der theologischen Wissenschaft, daß, wenn es überhaupt gelingen soll, die historische Grundlage des Lebens Jesu zu erforschen, dies nur mit Hülfe der drei ersten Evangelien und durch ein Beiseitelassen des vierten möglich wird. Die Synoptiker sind jedenfalls die ursprünglicheren Schriften, und es kommt darauf an, auch sie einer kritischen Behandlung zu unterwerfen.

Die kritische Hauptfrage in Betreff der drei ersten Evangelien ist nun die, wie sowohl die zwischen ihnen bestehende Verwandtschaft wie auch die vorhandene Verschiedenheit erklärt werden könne. Beides, Verwandtschaft und Verschiedenheit, ist hier tatsächlich in auffallender, wohl kaum zum zweiten Male in der Geschichte auftretender Weise vorhanden. Oft scheint es, als habe ein Evangelist den andern einfach copirt; dann kommen plötzlich wieder Differenzen zum Vorschein, die eine solche Annahme geradezu ausschließen So haben die drei ersten Evangelien mit den Gelehrten geradezu ein neckisches Spiel getrieben.

Es würde den Leser ermüden, wenn auch nur im Allgemeinen der Gang dieser Untersuchungen angedeutet werden sollte. Was überhaupt an Hypothesen geleistet werden konnte, ist auch auf diesem Gebiete geleistet worden, bald genial und kühn, bald kleinlich und pedantisch, ohne daß aber bis jetzt das Problem selber zu einer allgemein anerkannten Lösung gekommen wäre. Nachdem sich indeß die Hypothesenfluth seit einiger Zeit etwas verlaufen hab haben sich die Forschungen soweit geklärt, daß man als sicheres Ergebniß derselben das Eine betrachten kann: daß wir in keinem einzigen unserer Evangelien eine wirklich ursprüngliche Schrift von einem Apostel oder einem directen Apostelschüler besitzen. In der uns überlieferten Redaction kann keine der drei Evangelienschriften vor dem Jahre 70, dem Jahre der Zerstörung von Jerusalem, verfaßt worden sein, da sich in allen dreien Stellen finden, welche die Zerstörung Jerusalems schon als geschehen voraussetzen. Wahrscheinlich ist die zweite, nach Marcus benannte, die älteste, jedenfalls aber die dritte, nach Lucas benannte, die jüngste unserer neutestamentlichen Evangelienschriften. Das dritte Evangelium giebt in seiner Einleitung selbst an, daß zur Zeit der Abfassung desselben schon zahlreiche anderweitige Evangelienbearbeitungen vorhanden waren, und unverkennbar ist, daß in dem dritten Evangelium die beiden andern benutzt worden sind. Das Ende des ersten und der Anfang des zweiten Jahrhunderts ist demnach als die Zeit anzusehen, in welcher die Evangelienliteratur zu ihrem canonischen Abschluß gekommen ist.

Daneben steht aber auch das Andere fest, daß doch jede dieser drei Evangelienschriften alte historische Quellen, wenn auch mit mehrfacher Ueberarbeitung, enthält. Als Quelle gilt in erster Linie das alte, von Papias erwähnte hebräische Original des Matthäus. Außerdem wird aber wahrscheinlich noch eine zweite, auf Marcus, den Schüler des Petrus, zurückzuführende und ebenfalls von Papias erwähnt Quellenschrift in Betracht kommen.

Wenn durch die Grundlage gemeinsamer Quellen die zwischen den drei Evangelien bestehende Aehnlichkeit ihre Erklärung findet, so entsteht nun aber die weitere Frage: woher denn die Verschiedenheit komme? Die Antwort hierauf ist die, daß die einzelnen Bearbeiter in ihren Arbeiten bestimmt Tendenzen verfolgten, und daß diese Tendenzen die Art und Weise der Bearbeitung beeinflußt haben.

Zwei unvermittelte und schroffe Gegensätze waren am Ausgange des apostolischen Zeitalters zu verzeichnen gewesen: die heiden-christliche, in den Paulus-Briefen vertretene Auffassung des Christenthums, und die juden-christliche, in der Offenbarung des Johannes vertretene Auffassung. Jemehr aber der Gedanke einer katholischen, das heißt allgemeinen, alle Gegensätze aus ihrem Schooße austilgenden Kirche sich zu entwickeln begann, desto mehr mußte vor allen Dingen jener fundamentale Gegensatz, der die ältesten Gemeinden geradezu in zwei Heerlager spaltete, beseitigt werden. Die ursprünglichsten Producte dieser katholisirenden Thätigkeit der Kirche haben wir nun in unseren Evangelien vor uns. Die Quellenschriften des Lebens Jesu waren ursprünglich ein neutrales Gebiet. Sie enthielten einfache, soweit wie möglich objective Erzählungen und Berichte. Dieses Gebiet suchte jede der feindlichen Partien für sich zu erobern. Man legt, je nach der eigenen Parteirichtung, Jesu Worte in den Mund, die eine Autorität für die Partei-Anschauung zu werden geeignet schienen; man änderte die historischen Berichte in demselben Interesse um oder entfernte auch einfach solche Worte, die den Parteigrundsätzen widersprachen. Unsere Evangelien sind indeß keine ersten Ueberarbeitungen der Quellen mehr, sondern erweisen sich als zweite oder gar dritte Redactionen. Es tritt in ihnen eben nicht mehr die reine Parteitendenz, sondern schon die der Parteitendenz mehr oder weniger die Spitze abbrechende katholisirende Richtung der Kirche zu Tage. Das zweite Evangelium neigt noch entschieden dem Juden-Christenthume zu; es giebt dem Petrus eine hervorragende Stellung unter den Jüngern; es hebt mit Nachdruck die Lehre von der Einheit Gottes, diese Grundlehre des Mosaismus, hervor; es sieht in dem heidnischen Gebiet den Wohnort der Dämonen und läßt Jesum einen geheilten Heiden aus seinem Gefolge wegweisen. Andererseits ist die auf craß judaistischem Boden entstandene Erzählung, daß Jesus die Heiden mit den Hunden verglichen haben soll, denen man das für die Kinder, die Juden, bestimmt Brod nicht vorwerfen dürfte, schon durch die Auffassung gemildert, daß die Kinder nur den Vorzug hätten, vor den Heiden bedacht zu werden. Es tadelt den Johannes, der einem Menschen den Exorcismus im Namen Jesu verbieten will, weil derselbe nicht direct zu ihrer Schaar gehöre, und es läßt Jesum seine Jünger direct ermahnen, sie sollen Frieden mit einander haben.

Die seltsamste Erscheinung dieser altkatholischen Literaturerzeugnisse bleibt das nach Matthäus benannte Evangelium, die

Schrift mit dem Janus-Kopf, dessen eines Gesicht, wie ein neuerer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 834. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_834.jpg&oldid=- (Version vom 17.12.2022)