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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Flügel, und wieder war es dasselbe zauberhafte Notturno, das sie schon einmal gehört. Leise richtete sie den Kopf empor. Aber nach den ersten zwanzig Tacten erhoben sich im Zimmer des alten Herrn so schauderhafte Töne, wie sie in ihrem Leben von einer menschlichen Stimme noch nicht vernommen worden. Der Baron, welcher eine letzte Pfeife vor Schlafengehen rauchte, war wüthend über die Musik und begann seinerseits einen längst verschollenen Gassenhauer zu singen, der ihm aus seiner Jugend her im Gedächtniß geblieben. Es klang wie das Geheul rostiger Thorflügel.

Das war seine Rache, und sie wirkte unmittelbar.

Die zauberhafte Weise drüben verstummte.

Als der Baron am Morgen gestiefelt und gespornt aus seinem Fenster stieg, empfing ihn eine für diese Jahreszeit auffallend warme Luft. Der Himmel war tief blau, wie mitten im Sommer. Spatzenhaufen schwirrten in erbittertem Kampfe wie unsinnig über die Mauer und wieder herüber, und auf der Dungstätte kämpften die Hähne und gluckten und gurrten die Tauben.

„Das ist ja ’n merkwürdiges Wetter,“ sagte der alte Herr kopfschüttelnd zu Jochen, als er den Wagen bestieg. „Es ist ja, als wenn das heute noch ’n Gewitter geben sollte.“

„Das ist möglich,“ war die lakonische Antwort.

Vor dem Thore begegneten ihnen zwei Gestalten in einer Art Uniform, jede mit einem Blechschilde auf der Brust. Sie grüßten militärisch, als der Wagen an ihnen vorbeistockerte. Der Baron musterte sie scharf und zog die Stirn unter dem Riesenschirm der Jockeymütze kraus, worauf er eine Weile in unruhiges Nachdenken versank.

„Jochen,“ sagte er nach einiger Zeit, „was waren das für Kerls? Das schien mir was vom Gericht zu sein.“

„Das glaube ich auch, Herr!“

Wieder eine Pause von zehn Minuten.

„Jochen, die sollen mir doch wohl mein Quartier nicht ausräumen in der Zeit, daß wir nach Branitz fahren?“

„Kann sein, auch nicht, Herr.“

„Das wäre der Teufel! Fahr mal rasch zu!“

Jochen hieb auf die Pferde ein, daß sich der Wagen in Staubwolken hüllte, während sie am Waldrande hinrasselten.

Herr von Pannewitz war zu Hause; indeß war der Weg auch diesmal ein erfolgloser.

„Ich kann Dir jetzt nicht helfen, Franz. Ich habe nur so viel baares Geld liegen, wie ich zum Auszahlen brauche. Wenn ich das gestern gewußt hätte, wo ich bei meinem Bankier war, dann hätt’ ich Dir das mitbringen können, und das hätte ich aus alter Freundschaft auch wohl gethan, wenn ich auch gleich nicht dafür bin, daß Du Deinen alten harten Kopf aufsetzen und den Leuten noch helfen sollst auszuwandern, was so schon das Unglück in dieser Gegend ist.“

„Das ist mir fatal, Pannewitz – das ist mir sehr fatal. Dann hilft das heute nichts. Wenn Du mir nur in einiger Zeit aushelfen willst.“

„Das will ich wohl, Franz, aber überleg’ Dir das! Du machst ’nen Eulenspiegel-Streich und schlägst zu Deinem Vergnügen ein ganzes Geschirr entzwei. – Aber wie sieht’s damit aus, daß Du heute aus dem Gute ziehen sollst?“

„Hoho! wie werd’ ich das? Ich werde doch kein Narr sein? Und wenn die Pogge zwanzig Kerls vom Gericht dazu holt.“

Der Baron sprach zerstreut. Herr von Pannewitz legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte im Ton besorgter Freundschaft:

„Du weißt, Franz – wenn Dir was passirt: Branitz steht Dir und Anne-Marie immer offen.“

„Das weiß ich, das weiß ich, Pannewitz. Du bist mein alter Freund und ein guter Kerl. Nun will ich aber machen, daß ich nach Pelchow komme; denn der Cujon, die Pogge, könnte mir hinter meinem Rücken was anstiften. Adschüs auch!“

(Fortsetzung folgt.)


Das kapische Erdferkel im zoologischen Garten zu Berlin.

Im Affenhause des Berliner zoologischen Gartens, dort, wo auch jenes wundersam gestaltete Wesen, der noch stetig angestaunte Ameisenbär, seine Wohnstätte gefunden und unter seinen ausgelassenen, beweglichen Nachbarn als das Urbild der Trägheit und des Stumpfsinnes erscheint, ist jüngst ein gar seltsames Geschöpf untergebracht worden. Wiewohl der Familie der Ameisenfresser gleichfalls angehörig, also dem oben erwähnten trägen, zottigen Gesellen eng verwandt, zeigt dennoch dieser neue Fremdling in seiner äußeren Gestalt mit jenem auch nicht die geringste Spur einer Aehnlichkeit. Wenn dieses Thier, seiner Gewohnheit gemäß, zusammengekauert, den Rücken dem Beschauer zugekehrt, regungslos daliegt, so könnte man es leicht für eine Abart unseres Hausschweines halten und es vielleicht kaum einer näheren Beachtung werth erachten. Wird es jedoch aus seinem Halbschlaf aufgerüttelt und bewegt es sich, durch die Nähe der Nahrung ermuntert, in plumpen Schritten nach der Vorderseite des Käfigs oder nimmt es, wie zum Kampf gerüstet, eine aufrechte Stellung ein, so bietet es in der That eine merkwürdige, höchst sonderliche Erscheinung dar.

Mit Interesse betrachtet dann der aufmerksame Beschauer diesen plumpen, halb röthlichgelb, halb braun gefärbten Körper, diesen Kopf mit der seltsam verlängerten Schnauze, den ungewöhnlich langen Ohren und den freundlich glänzenden Augen, die kurzen, mit furchtbaren Krallen bewaffneten haarigen Füße. Er versucht es, dieses Geschöpf irgend einer der ihm bekannten Thiergruppen einzureihen. An eine nahe Verwandtschaft des seltsamen Wesens, das ihm als kapisches Erdferkel (Orycheropus capensis) bezeichnet wird, mit seinem struppigen Genossen nebenan vermag er erst dann zu glauben, wenn dasselbe plötzlich aus seiner winzigen Mundöffnung die lange, wurmförmige Zunge ausstreckt. Dann wird es ihm erst klar, daß die Natur diese beiden Thiere für einen gleichen Lebenszweck bestimmt hat; dann vermag er für die barocke Gestalt des Erdferkels eine Erklärung zu finden und sie für etwas mehr als ein bloßes Spiel der Schöpfung zu halten; dann steht er auch nicht länger an, dasselbe als ein Glied jener merkwürdigen Rasse der Wirbelthiere anzusehen, welche die naturwissenschaftlichen Systematiker nach langen mühevollen Studien unter dem Namen „Zahnarme“ (Edentata) zusammengefaßt haben.

Ebenso wenig wie sich eine Uebereinstimmung oder Aehnlichkeit des Erdferkels mit dem Ameisenbär hinsichtlich der äußeren Gestalt feststellen läßt, vermag man überhaupt alle die Geschöpfe, welche dieser seltsamen Thierclasse zugezählt werden, in allgemeinen Zügen zu kennzeichnen. Jedes derselben ist von dem anderen grundverschieden in seinem Bau, seiner Größe, ja seinem Charakter, und dennoch sind sie alle unter einer Gruppe vereinigt worden, weil sie in manchen Dingen wieder eine auffällige Uebereinstimmung zeigen; denn sie alle haben entweder einen vollständigen Zahnmangel oder doch ein höchst verkümmertes Gebiß, dagegen ungemein entwickelte Nägel; alle erscheinen uns in ihren wunderseltsamen Formen, in ihrem lichtscheuen, stumpfsinnigen Wesen wie Fremdlinge der Schöpfung oder wie die lebenden Denkmäler einer untergegangenen Welt.

Erzählt doch die paläontologische Wissenschaft gar wundersame Dinge von jenen riesenhaften Geschöpfen der Vorwelt mit der mangelhaften Zahnbildung und den furchtbaren Krallen; gleicht doch das Megatherium, dessen Skelet einst im Diluvialsande der Pampas von Südamerika gefunden wurde und das noch heute im Museum zu Madrid in ausgeführter Vollständigkeit aufbewahrt wird, in seinem ganzen Bau demjenigen unserer heutigen Faulthiere. Wunderseltsam und abenteuerlich erscheint unserer Phantasie jenes vorweltliche Wesen in seiner Elephantengröße, und in fragwürdigen, fremdartigen Gestalten treten uns noch heute seine lebenden Vettern in ihren weit weniger auffälligen Größenverhältnissen entgegen. Doch so sehr wir auch geneigt sind, in diesen wunderlichen Formen und organischen Bildungen nur eine Laune der Schöpfung zu erkennen, so werden wir doch anderen Sinnes, wenn wir näher in das Leben und Treiben dieser Geschöpfe eingehen. Dann gewinnen für uns die seltsame Gestalt des Faulthieres, der Panzer des Armadills, die Wurmzunge und die scharfen Krallen der Ameisenfresser Bedeutung; dann tritt uns auch hier in dem Werdeproceß der Natur die Logik in deutlichen Zügen vor Augen.

Wenn wir uns z. B. mit Hülfe unserer von G. Mützel mit vortrefflicher Naturtreue gezeichneten Abbildung (sie stellt Erdferkel vor einem Termitenhaufen sitzend dar) in die afrikanische Heimath des Erdferkels versetzen und nun die eigenartige Rolle beobachten, welche dieses Wesen im Haushalte der Natur zu spielen hat, dann

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_828.jpg&oldid=- (Version vom 16.12.2022)