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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

die euch zerstören!“ sagt er und ferner: „Wer ein anderes Evangelium predigt, als ich gepredigt habe, der sei verflucht!“

Solche Worte lassen noch wieder den alten Zeloten von früher erkennen. Er wird in diesem Eifer für seine Sache selbst ungerecht gegen den Gegner. Er sieht Heuchelei und böse Absicht, wo doch nur Schwäche oder irrige Ueberzeugung zu finden ist. Daneben ist das Herz dieses stürmischen Eiferers wieder der weichsten und innigsten Empfindungen fähig. Paulus ist es ja, der die Liebe höher stellt als alles Reden mit Menschen- und Engelzungen, höher als alle Weisheit, ja höher als den Glauben und die Hoffnung.

So wechselt in seinen Briefen oft plötzlich die Stimmung. Nachdem er eben noch heftig gedroht, verfällt er kurz darauf in den rührendsten Ton der Bitte und der Ermahnung. Seine unverwüstliche Arbeitskraft, die ihn rastlos in zwei Welttheilen umhertreibt, indem er den Tag über zu seinem Lebensunterhalte Teppiche webt und Abends und Nachts über die höchsten Probleme der Menschheit predigt und discutirt – diese Arbeitskraft wird getragen von einem schwachen, gebrechlichen Körper, der ihm oft viel zu schaffen macht und nach Momenten höchster geistiger Erregung oft den Dienst versagt. Das hohe Selbstbewußtsein, das ihn im Blick auf die heilige Sache, der er dient, über sich selbst erhebt, hat zu seiner Kehrseite die Erinnerung an die große Verirrung seiner Jugend, der er zum Opfer gefallen ist, und diese Erinnerung legt über sein ganzes Wesen einen tiefen melancholischen Schatten, der nach den Augenblicken höchsten Jubels und höchster Seligkeit doch wieder zum Vorschein kommt. Bald ist er schwärmerisch entzückt, daß er nicht mehr weiß, ob er im Leibe ist oder außerhalb des Leibes; er schaut Visionen, die kein sterblich Auge gesehen; er hört unaussprechliche Töne. Und doch sieht sein nüchterner praktischer Blick, daß ein vernünftiger, der Belehrung und Besserung dienender Gedanke mehr werth ist, als alle diese Zustände verzückter Erregung.

Widerspruchsvoll wie der Charakter, ist auch die Theologie, die in den Briefen des Paulus vertreten ist. Diese Theologie ist in ihrer Grundlage durchaus pharisäisch geblieben. Die Cardinalfrage des Pharisäismus, wie der Mensch gerecht werde vor Gott, ist auch die Cardinalfrage der paulinischen Theologie. Diese Frage ist aber nur möglich, wo das Verhältniß von Gott und Mensch noch als ein äußerliches, juristisches aufgefaßt wird. Sie setzt voraus, daß ein Rechtshandel zwischen Gott und Mensch bestehst und es kommt nur darauf an, diejenige Rechtsnorm zu finden, nach welcher der Handel zum Austrag gebracht werden muß. Die Pharisäer sagten: „Das Gesetz ist diese Rechtsnorm; wer dasselbe erfüllt, der ist gerecht.“ Paulus sagte: „Der Glaube ist diese Rechtsnorm; denn der Glaube wird dem Menschen kraft eines alten, schon vor Einführung des Gesetzes mit Abraham abgeschlossen Vertrages als Gerechtigkeit angerechnet.“

Auch in der Form verrathen die paulinischen Briese noch durchweg den früheren Pharisäer. Um einen Gedanken zu beweisen, geht er nicht auf die innere Logik und Wahrheit der Sache ein, sondern er geht auf das Alte Testament zurück, das er in echt rabbinischer Weise verwendet. Er hängt nach Art der Rabbiner einen ganzen Berg an ein Haar; das heißt: er zieht aus einem an sich ganz geringfügigen Umstande die schwerwiegendsten Folgerungen. Diese Art rabbinischer Beweisführung macht viele Stellen der paulinischen Briefe für den Laien unverständlich, ja geradezu ungenießbar.

Und doch ist dieser Paulus, der mit dem einen Fuße im Pharisäismus stecken geblieben ist, zugleich auch wieder der kühnste Vertreter der christlichen Freiheit. Ihm ist das Christenthum gleichbedeutend mit der Religion der Freiheit. „Ihr seid zur Freiheit berufen, Bestehet in der Freiheit!“ So ruft er den Galatern in's Gewissen. „Ihr habt nicht einen knechtischen Geist, einen Geist der Flucht, sondern einen kindlichen Geist empfangen,“ so schreibt er an die Römer, und: „Werdet nicht der Menschen Knechte!“ das ist das große Thema des ersten Corintherbriefes.

Auf diesem freien religiösen Standpunkte ist die Scheidewand zwischen den Nationen und Confessionen gefallen. Die äußeren Ceremonien, welche die Menschen trennten, haben da ihre absolute Bedeutung verloren. Deshalb gilt nun nicht mehr Jude noch Grieche, nicht mehr Mann noch Weib, Knecht noch Freier – sie sind allzumal Eins. Wenn Jemand noch Tage hält, Neumonde und Jahreszeiten feiert, so mag er das um des schwachen Gewissens willen thun. Aber er kehrt damit zurück zu den dürftigen und überwundenen Anfängen der Gottesverehrung. In allen religiösen und sittlichen Dingen bleibt das Gewissen die letzte Instanz.

Niemand darf sich zum Richter eines fremden Gewissens aufwecken, und auch die Apostel sind nicht Herren über den Glauben der Gemeinde. Für den Standpunkt höchster sittlicher Freiheit gilt eben das Wort: „Alles ist euer! Alles ist erlaubt, was wir vor unserem Gewissen rechtfertigen und mit der Pflicht der Nächstenliebe vereinigen können!“ Alle äußeren Satzungen und Ceremonien der Religion sind nur für die Kinder und Unmündigen, die unter dem Zuchtmeister stehen. Die mündig gewordene Menschheit bedarf ihrer nicht mehr. Wer versucht, die Christen wieder unter ein knechtisches Joch zu fangen, versündigt sich an dem innersten Wesen des Christenthums.

Frei wie zu allem historischen Inhalt der Religion steht Paulus auch zur geschichtlichen Person Jesu. Wohl mag Paulus die Einzelnheiten aus Jesu Leben erkundet haben, wie er ja in Betreff der Einsetzung des Nachtmahls der entscheidende Zeuge ist. Aber der geschichtliche Jesus ist ja der „Christus nach dem Fleisch“, von dem Paulus mit einem gewissen Nachdruck behauptet, daß er ihn nicht mehr kenne, ob er ihn schon früher einmal gekannt habe. Als Quelle für die Geschichte Jesu bietet deshalb Paulus, die Einsetzung des Abendmahls abgenommen, wenig oder gar nichts. Sein Christus ist der ideale, der vergeistigte Christus, der aufgehört hat, sterblich zu sein. Christus ist ihm ein weltgeschichtliches Princip, das Princip der Erlösungsreligion, das schon seit Anbeginn der Geschichte wirksam, aber erst im Christenthum zu voller Entfaltung gekommen ist. Er ist ihm der andere Adam, das Urbild der Menschheit im Sinne der platonischen Idee, das, vom Anfang an in der Idee Gottes vorhanden, „als die Zeit erfüllet war“, im Fleische erschien.

Es ist von ganz außerordentlicher Bedeutung für die weitere Entwickelung des Christenthums, daß Paulus gerade diese Auffassung des Christenthums vertritt. Hatte die ursprüngliche, im Ur-Matthäus zur schriftlichen Darstellung gekommene jerusalemische Tradition sich hauptsächlich an die Lehre Jesu und überhaupt an die geschichtliche Wirklichkeit des Lebens Jesu gehalten, so liegt nun in dem paulinischen Christenthum das Hauptgewicht auf einer bestimmten speculativen Ansicht über die ideale Bedeutung der Person Jesu. Dort haben wir den realen, hier den idealen Christus, und dieser Gegensatz führte mit innerer Nothwendigkeit zu der späteren kirchlichen Lehre vom Gottmenschen.

Daß eine solche Predigt im Munde eines Mannes, der mit seiner ganzen Persönlichkeit für dieselbe in den Riß trat, eine zauberische Wirkung auf die Gemüther ausübte, läßt sich leicht begreifen. Die Predigt, daß die Menschen zur Freiheit berufen seien, schien dem innersten Verlangen der Menschen zu entsprechen, und gerade in der hellenischen Welt mußte Paulus für seine an die platonische Philosophie sich anlehnende theologische Vorstellungsweise günstigen Boden finden. Und doch läßt es sich ebenso leicht begreifen, daß diese Predigt auf der anderen Seite den heftigsten Widerspruch hervorrief. Eine solche absolute Freiheit, wie sie Paulus verkündigte, erschien den Meisten als alle Sittlichkeit und Religion untergrabend. Man muß gegen die Gegner des Paulus gerecht sein. Möglich, daß beleidigter hierarchischer. Ehrgeiz bei ihnen mitspielte. Hatte doch Paulus dem Petrus in Antiochien in höchst unehrerbietiger Weise nackt und unverhüllt den Vorwurf der Heuchelei in’s Gesicht geschlendert. Hatte er. sich doch um die angesehenen Jünger in Jerusalem gar nicht gekümmert, sondern auf eigene Faust, ohne ihre apostolische Bestätigung abzuwarten, das Amt eines Apostels angetreten. Doch werden persönliche Motive hier schwerlich den Ausschlag gegeben haben. Die jerusalemitischen Christen meinten eben wirklich, daß das Heiligthum der Religion gefährdet sei, wenn der scheinbar grundstürzende Liberalismus des Paulus um sich greife. Sie meinten, daß der, welcher so stark sich über alle historische Tradition hinwegsetze, unmöglich das wahre Christenthum haben könne. So ist es ein erbitterter Principienkampf, dem wir auf Schritt und Tritt in den Schriften des Paulus begegnen, ein Kampf, der sich aber der Natur der Sache nach auch bald persönlich zuspitzte. Man suchte den Paulus zu verdächtigen, er sei gar kein Apostel, er predige, um den Menschen zu gefallen, er suche seinen Vortheil, und wir sehen aus den Briefen des Paulus, daß diese Machinationen und Verdächtigungen nicht ohne Erfolg blieben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_806.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)