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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Wohl überschwemmt die Orthodoxie jahraus jahrein das Land mit Colporteuren, um der Bibel neuen Eingang in die Häuser zu verschaffen, und es ist allein den preußischen Bibelgesellschaften gelungen, im vergangenen Jahre 52,741 Bibeln und 14,786 Neue Testamente abzusetzen. Aber trotzdem ist die Bibel kein Volksbuch mehr. Sie ist vorwiegend Decoration für Familienbibliotheken und wird wohl noch gekauft und verschenkt, aber wenig gelesen.

Die wissenschaftliche Theologie hat längst einen richtigeren Maßstab für die Würdigung der biblischen Schriften gewonnen, als ihn die altkirchliche Orthodoxie in ihrem Dogma von. der göttlichen Eingebung der Bibel besaß. Die Wissenschaft vergöttert und betet die Bibel nicht mehr an, sondern sucht dieselbe als ein Glied in dem gesammten Entwickelungsgange der Religions- und Kirchengeschichte zu begreifen; sie leugnet die Entstehung der Bibel durch directe göttliche Eingebung und übernatürliche Mittel und erklärt sie für ein Werk von Menschenhand, für ein Buch wie andere Bücher. Bei dieser Betrachtungsweise hat die Bibel wahrlich nicht verloren, sondern nur gewonnen. Wenn dagegen in der Mehrzahl unserer Schulen die alte traditionelle Auffassung der Bibel auf hohen obrigkeitlichen Befehl ruhig weiter gelehrt wird, als ob eine wissenschaftliche Theologie überhaupt nicht existire, so ist das ein Verhängniß, das weder dem Volke noch der Bibel zum Segen ausschlägt.

Die Bibel, insbesondere das Neue Testament, ist unleugbar mit der Geschichte der civilisirten Welt auf's Engste verbunden. Die Entstehung des Neuen Testaments bezeichnet immerhin, wie man auch sonst über dasselbe denken mag, einen der epochemachendsten Punkte in der gesammten Menschheitsgeschichte. Um so bedeutsamer erscheint deshalb die Frage, was es denn mit diesem Buche eigentlich auf sich habe.

Der geschichtliche Proceß, dem das Neue Testament seine Entstehung verdankt, ist keineswegs so einfach, wie die vulgäre kirchliche Anschauung anzunehmen pflegt. Ursprünglich hatten die christlichen Gemeinden, die in ihren Gottesdiensten einfach zunächst die heiligen Schriften der Juden gebrauchten, überhaupt keine eigenen heiligen Schriften. Die älteste Art und Weise, das Christenthum zu verbreiten, war ohne Zweifel die der mündlichen Predigt. Jesus selber hatte bekanntlich keinerlei schriftliche Aufzeichnungen über seine Lehre hinterlassen, und seine Jünger, die nach seinem Tode den Zusammenbruch dieser Welt erwarteten, konnten zunächst gar kein Bedürfniß haben, ihre Predigt für nachkommende Geschlechter sicher zu stellen, zumal so lange sie mit derselben nicht über den Kreis der sie umgebenden Gemeinde hinausgingen. Nur von dem Apostel Matthäus haben wir die verbürgte Nachricht, daß er schriftliche Aufzeichnungen über die Reden Jesu hinterlassen habe. Papias, der Bischof von Hierapolis, gestorben um 163, ist hierfür Gewährsmann, und außerdem begegnet uns auch in der ältesten Kirche die Kunde von einem sogenannten Hebräer-Evangelium, welches, wenn nicht gar mit jenem Evangelium des Matthäus identisch, doch mit demselben nahe verwandt war. Dieses Matthäus-Evangelium ist indeß in seiner ursprünglichen Gestalt verloren gegangen. Es war hebräisch geschrieben und wird neben den hauptsächlichsten Reden Jesu einzelne kurze biographische Daten aus dessen Leben enthalten haben. Daneben vertrat es den judenchristlichen, an dem alten mosaischen Gesetz festhaltenden Standpunkt. Unser griechisches Matthäus-Evangelium, das uns im Neuen Testamente aufbewahrt ist, kann keine Uebersetzung des ursprünglichen Evangeliums sein, wen es Bestandtheile enthält, welche in dem Ur-Matthäus nicht gestanden haben, und weil es sich in der freien Behandlung alttestamentlicher Citate als ein griechisches Original, nicht aber als eine Uebersetzung aus dem Hebräischen bekundet.

Welch weiter Weg ist nun von jener in engen Grenzen sich bewegenden mündlichen Predigt der Jünger und jenem einfachem nur noch in einzelnen Bruchstücken mühsam erkennbaren hebräische Matthäus-Evangelium bis zu dem so reich und mannigfaltig gestalteten Inhalte unseres Neuen Testaments! Ein Weg, der durch die Geschichte von Jahrhunderten hindurchführte und erst am Anfang des fünften Jahrhunderts, im Zeitalter Augustin’s, durch den definitiven Abschluß des neutestamentlichen Canons sein letztes Ziel erreicht. Dieser Weg war durchaus nicht glatt und eben. Das Neue Testament hat sich nicht so gebildet, daß uns einem vorhandenen Grundstock sich die einzelnen Zweige organisch heraus entwickelten. Es ist vielmehr das Resultat heftiger Strömungen und Gegenströmungen, die ihre Spuren deutlich in der Geschichte zurückgelassen haben.

Schon als die einzelnen Schriften des Neuen Testaments sämmtlich vorhanden waren, wurde immer noch um ihre offizielle Anerkennung und Aufnahme in die kirchlich autorisirte Sammlung gekämpft. So theilt noch der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea, gestorben 340, die Bücher des Neuen Testaments in solche, die allgemein anerkannt waren, und in solche, denen widersprochen wurde. Zu der ersten Gruppe rechnet er die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Paulusbriefe, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief zu der zweiten dagegen den Brief des Jacobus, des Judas, den zweiten Brief des Petrus und den zweiten und dritten Brief des Johannes, während die Offenbarung Johannis bald zur ersten, bald zur zweiten Gruppe gerechnet wurde. Von Hause aus giebt es aber im Neuen Testament keine einzige Schrift, deren Berechtigung nicht angefochten wurde, und je weiter wir in die ältesten Zeiten der Kirche hinausgehen, desto schwankender wird der Inhalt der neutestamentlichen Sammlung. Eine Anzahl Schriften, welche die Kirche später gar nicht in ihre Sammlung aufgenommen hat, stand früher bei vielen Gemeinden in hohem Ansehen, so z. B. das Hebräer-Evangelium, die Thaten und die Predigten des Petrus, die Offenbarung des Petrus und andere. So waren auch Schriften, die bei dem einen Theil der Christen in Gebrauch waren, bei dem andern entweder völlig unbekannt oder geradezu verworfen.

Sobald man nun diese verschiedenen, zum Theil sogar einander ausschließende Schriftsammlungen näher betrachtet, entdeckt man, daß denselben ein bestimmtes System zu Grunde liegt. Diese Verschiedenheiten erscheinen nämlich bedingt durch die verschieden Stellung, welche die einzelnen Parteien der christlichen Kirche zu der Person des Paulus und der durch ihn vertretenen heidenfreundlichen Richtung einnahmen. Noch der Bischof Papias erkennt als heilige Schriften nur zwei Evangelien, das hebräische des Matthäus und das des Marcus, den ersten Petrus- und den ersten Johannesbrief, sowie die Offenbarung Johannis, an; der Kanon des gleichzeitig lebenden Häretikers Marcion enthält dagegen nur eine unserem Lucas-Evangelium verwandte Evangelienschrift und zehn Briefe des Paulus. Und doch war zur Zeit des Papias dem Widerspruch gegen Paulus in der officiellen Kirche schon die Spitze abgebrochen, wie die Ausführung des ersten Petrusbriefes, einer entschieden vermittelnden Schrift beweist. Nichtsdestoweniger fuhren die Heißsporne aus dem Judenchristenthum immer noch fort, ihre Bannstrahlen gegen den bestgehaßten der christlichen Prediger zu schleudern. Wie fanatisch diese Polemik gegen den Paulinismus geführt wurde, ist besonders aus den Homilien des falschen Clemens und den älteren Apostelgeschichten, den Thaten und Reden des Petrus, zu ersehen. Dort ist Paulus der Typus des Erzketzers. Er wird als Magier Simon hingestellt, der im Gegensatz zu dem wirklichen Simon, dem Petrus, die Gabe des heiligen Geistes mit Geld habe erschleichen wollen. Er wird geschildert als der feindliche Mensch, der Unkraut unter den Weizen säte, der in den Tempel eingebrochen sei, um den Feuerbrand vom Altar zu reißen und das Zeichen zur Verfolgung zu geben, als der, der gekommen sei, die Seele zu täuschen, indem er den Juden heuchelte und vorgab, das Gesetz Gottes zu lehren.

Wen am Anfange und in der Mitte des zweiten Jahrhunderts solch erbitterten Gegensatz gegen den großen Heidenapostel noch bestand, so geht die neuere Kritik sicherlich nicht fehl, wenn sie annimmt daß Paulus überhaupt der Mittelpunkt war, um den sich die Bewegung in der ältesten christlichen Kirche drehte. In der That ist es Paulus gewesen, der zu jener im alten Matthäus-Evangelium zum Ausdruck gekommenen judenchristlichen Strömung die Gegenströmung erzeugt und dadurch die literarische Thätigkeit der alten Kirche erst in Fluß gebracht hat. Da wir das hebräische Urevangelium nicht mehr besitzen, so sind wir also für die Kenntniß des urchristlichen Lebens an die Briefe des Paulus als an die ältesten Quellen des Christenthums gewiesen.

Unter den Briefen, welche den Namen des Paulus tragen, müssen wir aber wieder diejenige vorläufig ausscheiden, welche offenbar den Stempel einer späteren Zeit an sich tragen, sodaß als unzweifelhaft echt paulinisch nur vier Briefe übrig bleiben: die beiden

an die Corinthier, der an die Galater und der an die Römer,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 804. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_804.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)