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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Siegmund’s Beharren, seine plötzliche Umstimmung in einem so wesentlichen Punkte, erschienen ihr unbegreiflich, machten sie fast an seiner Männlichkeit irre. Das Einzige, womit sie ihn hier entschuldigte, war seine Jugend. Und da sie den Schritt, welchen er vorhatte, als verderblich für ihn betrachtete, zögerte sie nicht ein mächtiges Argument wirken zu lassen: sie deutete Siegmund an, daß Margarita’s Hand ihm zugedacht sei, diese Hand aber nicht in die seinige gelegt werden könnte, wenn er mit der andern seine Mutter festhielt.

Siegmund ward aber von einer Macht beherrscht, gewaltiger als jedes Drohen oder Verheißen: seit Margarita’s liebe Hand die Bitterkeit fortgeschoben, die wie ein Riegel vor der Liebe lag, strömte sein altes, heißes, unaussprechliches Gefühl für die Mutter über jede Klippe hinweg. Galt es auch auf das schönste Glück zu verzichten, galt es den Verzicht auf Margarita’s Hand, so konnte ihn das nicht beirren; ihr Herz hatte ihn ja auf den Weg geleitet, auf welchem es ihn jetzt vorwärts trieb; dieses unschuldige, liebevolle Herz konnte ihm nur dann ohne Bangen gehören, wenn er that, was es ihn thun geheißen. Als ihr Bundesgenosse stand neben ihr Lois.

Verstimmt entließen Seeon’s den jungen Verwandten, als er sich aus ihrem Hause nach seiner Wohnung begab, um sich zu seiner Reise zu rüsten. Er sehnte sich nach Rücksprache mit Fügen, von dem er seit dessen kurzem Verweilen auf der Moosburg nichts mehr direct gehört, der inzwischen seine Mutter gesehen und ihm ihre Adresse mittheilen konnte. Bei dem ersten Worte, das er dem Meister über seine Absicht äußerte, fiel Dieser ihm mit einem kräftigen: „Gottlob!“ um den Hals. Nun erst erfuhr Siegmund im Zusammenhange, was den Seeon’s in Einzelnheiten und ungenügend bekannt geworden, erfuhr die volle Geschichte seiner Eltern, die Geschichte aller Leiden und Entbehrungen Genoveva’s aus dem Munde eines Mannes, der wiedergab, was er von ihr selbst erfahren.

„Und kein Wort zu mir!“ rief Siegmund mit leidenschaftlichem Vorwurf.

„Weil sie es mir verboten hat!“ erwiderte Fügen. „Wort und Handschlag forderte sie mir ab, durch keine Silbe Dir etwas abzuzwingen, was nicht aus Dir selbst kam. Und denk’ doch nur daran, wie Du mich aufgenommen hast, als ich Dir zuerst sagte, was Du ihr schuldig. Aber ich will nur der Wahrheit die Ehre geben: ich hab’ Dir’s zugetraut, Junge, daß Dein eigenes gesundes Herz den Rückweg schon finden würde, ohne Dreinreden. Was hätt’ es auch sonst helfen sollen! Nur um Eines war mir angst – ob Dir Zeit dazu bliebe.“

„Zeit?“ wiederholte Siegmund betroffen.

Fügen wendete das Gesicht ab.

„Du reisest ja nun,“ sagte er, „Du wirst schon sehen. Geh’ mit Gott! Dürft’ ich, so käm’ ich gern mit. Ich wollte ihr die Jana schicken, damit sie nicht so allein ist, und meine Frau sehnt und grämt sich nach ihr, aber sie will Keines um sich – glaub’s schon. Jetzt kommt, was sie braucht.“

„Sie ist krank?!“

„Nicht gerade! Aber leidend! Du wirst ihr Arzt sein.“

Die Unruhe, welche Siegmund ergriffen hatte, wuchs zu unbestimmten Bangen. Ihm war, als dürfe er. keine Minute verlieren. Wie Glockengeläute tönten unaufhörlich Lois’ Worte in seinem Ohre: „Bedenke, daß Deiner Mutter Gestalt einst neben Dir hergehen könnte, wie Maxi neben mir geht!“

Als er eben im Begriffe war, den Wagen zu besteigen, brachte ein Diener. des Seeon’schen Hauses ein kleines Paket mit seiner Adresse. Es enthielt Noten, die er Margarita früher geliehen. Zwischen den Heften lag ein weißes Blatt, und als er es aufschlug, fand er eine sorgfältig getrocknete, in unverändert tiefem Blau leuchtende Genziane.




36.

Genoveva saß, die Füße auf einem Kissen, den Kopf gegen die hohe Lehne ihres Sessels gestützt, in einem Hochpaterrezimmer, dessen geöffnete Fenster die Aussicht auf Gärten boten. Sie war allein. Gleichgültig hatte sie Fügen’s Drängen nachgegeben, den unruhigen Gasthof mit einer Privatwohnung zu vertauschen, welche er für sie aussuchte und in welche er sie brachte, ehe er Wien verlassen hatte. Nun ließ sie die Stunden kommen und gehen, ganz wehrlos, im Zustande äußerster Erschöpfung, in der man nichts mehr begehrt, weder Glück noch Tod. Ihre glanzlosen großen Augen waren nach dem Fenster gerichtet, zu dem maienhaftes Duften hereinströmte. Leiser Windhauch ging durch die lichtgrünen Blätter einer nahestehenden Akazie, aus deren luftigem Gezweige eben jetzt ein Vogel aufflog. Genoveva’s Blick folgte seinem himmelwärts gerichteten Fluge:

Wohin?

Ihre Gedanken wollten sich um diese Frage spinnen, so nahe ewig dem Geiste wie die Frage: warum? doch ließ sie müde davon ab. In ihr war es still, wie um sie her – sie hatte Alles losgelassen, sogar den Schmerz. Was sie gehofft, was sie gefürchtet, war erfüllt; nun galt es nur noch auf Eines zu warten, das ihr leise und sicher immer näher schlich, ohne daß sie nöthig hatte, einen Schritt entgegenzuthun.

Die Sonne funkelte herein – das blendete sie. Ihre Augen sanken leise zu und hoben sich nicht gleich, als sie nach einer Weile Schritte im Zimmer vernahm. So wenig sie derselben achtete, ließ sie doch ein instinctives Bewußtsein, daß nicht ihre Dienerin nahe sei, zwischen den Wimpern hervorblicken. Jäh richtete sie sich auf. Der vor ihr stand – war ihr Sohn.

Nur einen Augenblick stand er vor ihr. Im nächsten schon lag er ihr zu Füßen, beide Arme um die Zusammenbrechende geschlungen. Ein kurzer Wehelaut traf sein Ohr, wie ein Seufzer des Todes; er hielt eine Leblose in seinen Armen. Halb gelähmt vor Schreck, rieb er ihre eiskalten Hände, rief nach Beistand, ohne doch zu wagen, sich einen Moment von ihr zu entfernen. Er ward nicht gehört; die Dienerin, deren momentaner Abwesenheit zufolge er unbehindert eingetreten war, hatte sich noch nicht wieder eingefunden. In Todesangst lauschte er an der Brust seiner Mutter auf den Schlag ihres Herzens – es schien stille zu - stehen. Als er sich aufrichtete, hatte Genoveva die Augen geöffnet. Sie schien außer Stande, zu sprechen, ihn traf aber der alte Blick unsäglicher Liebe. Schluchzend, wie ein Kind, bedeckte er ihre Hände mit Küssen. Inmitten seines Jammers, sie so zu finden, so krank, so abgezehrt, durchjauchzte ihn ein übermächtiges Glücksgefühl: sie waren beisammen – jede Fiber in ihm flog ihr entgegen; Welt und Menschen, jedes Urtheil, jeder Vorwurf war zerstoben; die einzige Schuld, welche er empfand, war seine eigene, das einzige Wort, welches er stammelte: „Vergieb!“

Genoveva bebte zusammen.

„Mein Sohn,“ sagte sie leise, „Du willst nicht, daß Deine Mutter dieses Wort spricht, das gesprochen werden mußte. Ich danke Dir. Dich zu sehen, bevor ich sterbe, hoffte ich nicht“

„Sterben!“

„Ruhen, Siegmund, ausruhen vom Irrthum von allem Falschen. Was ein Frevel bessern wollte, ward nur verschlimmert; was ich blind übersah, gewann mühelos unser Recht. Und ich hätte das schwerlich übersehen, wäre ich nicht so schnell bereit gewesen, zu verdammen. Alle, die ich beschuldigt, sind rein geblieben, aber die Schuldige ward ich. Dein Großvater hat uns nicht wissentlich betrogen; Dein Vater hat uns nicht verleugnet.“ Ein unbeschreibliches Lächeln gab den zerstörten Zügen all ihren einstigen Reiz zurück. „Sein letztes Wort auf Erden, Siegmund, galt Dir.“

„Ich weiß.“

„Um seinetwillen versprich mir, sein Erbe nicht zurückzuweisen!“

„Dieses Versprechen gab ich bereits meiner Schwester.“

Genoveva’s Kopf sank zurück.

„Ihr seid einig?“

Siegmund zögerte einen Moment; dann sagte er mit fester Stimme: „Ja“

Sie schlug ihren Arm um des Sohnes Hals und zog seinen Kopf neben sich nieder.

„Fügen glaubt, Du liebst Margarita Seeon – liebt sie Dich?“ fragte sie kaum verständlich.

„Ja!“

Er wollte mehr sagen, aber der bald stockende, bald wilde Schlag ihres Herzens beängstigte ihn namenlos. So hing er denn schweigend an ihren Augen, die in wunderbarem Glanze aufstrahlten; plötzlich ging ein Schatten darüber hin. Er versuchte seinen Arm zurückzuziehen – Beistand herbeizurufen schien so dringend Noth, aber Genoveva ließ ihn nicht von sich; ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und wie ein Hauch wehte es an sein Ohr:

„Ich habe Dich über Alles geliebt.“

Es war ihr letzter Hauch.


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