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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Wir wissen Alles, was Sie uns sagen oder verschweigen könnten, Siegmund. Capellmeister Fügen, der kürzlich Ihre Mutter gesehen, war von ihr beauftragt, uns von jedem auf Sie Beide bezüglichen Vorgang in Kenntniß zu setzen. Dies bestimmte mich, die Antwort auf Ihren mir unverständlich gewordenen Brief nicht zu verzögern.“ Sie bot ihm beide Hände und sagte warm: „Du siehst mich mit unseres Vaters Augen an, Siegmund. Willkommen, mein Bruder!“

Er neigte sich sprachlos über die schwesterliche Hand, die er an seine Lippen, seine Augen preßte. Ottilie zog ihn an ihre Brust und küßte ihn herzlich.

Nun erst suchten seine Augen Margarita, die etwas zurück stand. Beide tauschten einen langen Blick. Ihr Begrüßen blieb aber stumm.

Ich fasse noch immer nicht –“ sagte Siegmund wie aus einem Traum heraus.

„Setzen wir uns!“ schlug Ottilie vor und nahm Platz. „Es giebt viel zu besprechen, vor Allem einen, den wesentlichsten Punkt.“ Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann in festerem Tolle fort: „Ich verstehe sehr gut, welche Stimmung Deinen Brief dictirt hat, lieber Siegmund. Du hast aber außer Acht gelassen daß es sich in dieser Angelegenheit nicht um Deine persönliche Ansicht allein handelt. Es würde meinem Manne und mir nicht ziemen, ein Zurücktreten gelten zu lassen, wie Du es planst. Wir sind weder gewillt, noch berechtigt, Dir in Betreff Deiner Zukunft Vorschriften zu machen, gegenwärtig ist es aber notwendig und unumgänglich, die Thatsachen frei und öffentlich festzustellen. Seeon und ich waren nie gewöhnt, etwas, das unser Haus betraf, zu verbergen, und nehmen unser eigenes Recht in Anspruch, wenn wir auch jetzt in diesem Sinne handeln. Mein Mann, der unserem Rechtsbeistand bereits Aufträge zur Feststellung der materiellen Punkte gegeben hat, ersucht Dich, uns nach S. zurück zu begleiten.“

Siegmund erröthete heftig.

„Unmöglich!“

„Es ist notwendig,“ sagte Ottilie. „Daß es Dir schwer fällt, Deine Person, Dein Geschick gegenwärtig der Oeffentlichkeit auszusetzen, ist begreiflich, muß aber überwunden werden. Dein Ehrgefühl hat den schwersten Schritt bereits gethan: Du hast Dich von – Frau Genoveva geschieden. Um so weniger kannst Du für das, was ohne Dein Wissen geschah, verantwortlich gemacht werden. Du darfst den Kopf hoch tragen; denn kein Makel haftet an Deiner persönlichen Ehre. Laß mich zu Ende kommen!“ sagte sie, als er im Begriffe war, sie zu unterbrechen. „Als Beweis dafür, wie wir mit Dir stehen, aller Welt gegenüber, hat mein Mann gestattet, daß ich Dich hier aufsuchte und Deine Gastfreundschaft in Anspruch nehme. Als Beweis dafür, wie ich persönlich von Dir denke, und daß ich Dich fortan als unzertrennlich von uns betrachte, gestattete ich meiner Tochter, mich zu begleiten.“

Siegmund erhob lebhaft den gesenkten Kopf.

„Lassen Sie mir Zeit, so viel Unverhofftes zu bewältigen!“ sagte er nach schwerem Athemzuge. „Ich empfinde Alles – die Großmuth – das Opfer – ja, ja, auch die Notwendigkeit im Sinne Graf Seeon’s. Ich erkenne, was ich Ihnen schuldig bin – aber – ich habe viel gelitten – gönnen Sie mir Zeit!“

Minuten vergingen in einem Schweigen, das Allen natürlich war. Dann knüpften sich an ein hingeworfenes Wort der Gräfin einige abgerissene Bemerkungen über Naheliegendes, Aeußerliches. Siegmund besann sich darauf, einige Anordnungen zu treffen und ging, seine Leute zu rufen. Während eine ländliche Mahlzeit auf der Terrasse servirt wurde, suchten die gespannten Geister den Ton zu finden, der ihrem Verkehr sonst eigen gewesen. Das „Du“ seiner Halbschwester zu erwidern, war Siegmund noch unmöglich. Auch gelang es ihm nicht, mit Margarita in gewohnter. Weise zu sprechen. Alles war, statt näher zu rücken, so fremd geworden. Die Geliebte so verändert, so schweigsam und scheu.

Ein glorreicher Sonnenuntergang tauchte Thal, Fluß und Gebirge in wunderbare Farben. Margarita war aufgestanden und an die Brüstung getreten, und die Gräfin sprach den Wunsch aus, das Haus zu sehen; Siegmund führte sie durch die bewohnbaren Räume. Vor dem Zimmer, das für ihre Nachtruhe bestimmt ward, entließ sie ihn mit dem Bemerken, sich bald wieder auf der Terrasse einfinden zu wollen.

Nachdenklich kehrte Siegmund dorthin zurück. Wie seltsam gestalteten sich die Dinge! Aber die auf ihm lastende Schwere fühlte er dennoch nicht weichen.

Margarita stand noch auf dem vorigen Platze, und als sie seine Schritte vernahm, wendete sie den Kopf und wurde sehr blaß – sie waren allein. Stumm standen Beide neben einander, stumm aus Ueberfülle dessen, was sie sich zu sagen hatten.

„Hier, wo es so schön ist, wohnten Sie also früher, als Kind?“ unterbrach Margarita das herzklopfende Schweigen. „Das muß eine glückliche Zeit gewesen sein!“

„Es war eine glückliche Zeit,“ sagte Siegmund schwer.

„Und hierher kamen Sie dann immer im Herbste, um Ihre Mutter zu treffen?“ fuhr sie bebend fort.

Er fuhr zusammen und sah sie vorwurfsvoll an.

„Vergeben Sie mir!“ atmete sie, „aber ich muß mit Ihnen davon sprechen, muß Sie bitten –“ .

Er schüttelte heftig den Kopf aber sie ließ sich nicht beirren. Ihre lieben Augen standen voll Thränen, als sie mit den beiden Händchen seine abwehrende Hand erfaßte.

„Sie dürfen Ihrer Mutter nicht böse sein; ich verstehe das nicht, und mir ist bange vor Ihnen, wenn ich das glauben soll. O Siegmund! Was auch meine Mutter thun möchte, ich müßte sie doch immer lieb haben, und wären alle anderen Menschen ihr böse – dann noch viel mehr! Ich habe nicht zugehört, wenn der Herr Capellmeister erzählte, die Eltern sprachen aber nachher darüber, und Mama lobte es, daß Sie sich von Ihrer Mutter getrennt hätten und nie mehr mit ihr zusammen kommen wollten. Wie viel habe ich schon darum geweint!“

Sie sah das qualvolle Kämpfen im Gesicht des Geliebten, dessen kalte Hand in der ihrigen zuckte, und schmiegte ihr blasses Gesicht an seine Schulter. Dann sagte sie ganz leise:

„Siegmund, Sie haben mir erzählt, wie voll Liebe Ihre Mutter zu Ihnen, wie sie Ihnen über Alles teuer war –- das kann doch nicht auslöschen, weil sie etwas Unrechtes that? Sie jammert mich – wie muß sie warten, daß Sie kommen, und so viele Tage schon, und immer umsonst! Können Sie das ertragen? Ich könnte es um keinen Preis. Man muß ja doch treu sein.“

Er zitterte vom Kopfe bis zu den Füßen. Plötzlich schloß er das junge Mädchen einen Moment an sich, ließ sie dann los und bedeckte mit beiden Händen seine Augen, aus denen heiße, erlösende Tropfen fielen. Sein längst erschüttertes, lang widerstrebendes Herz schmolz dahin vor den schlichten Worten des liebreichen Kindes. – – –

Spät Abends, als Mutter und Tochter zur Ruhe waren, stieg Siegmund noch zu Thale und wanderte nach Lahnegg. Als er sich von Lois trennte, in dessen Behausung er eine Stunde zugebracht, schlossen sich die Beiden fest an’s Herz, wie Menschen, die einander nie verlieren können, wenn sie sich auch nicht wiedersehen sollten. Erhabene Freude leuchtete aus dem meist so stillen Auge des jungen Priesters.

Am folgenden Morgen verließ der Schloßherr die Moosburg zugleich mit seinen Damen und kehrte mit ihnen nach S. zurück. Ottilie war nicht auf ihr Verlangen zurückgekommen, dessen Erfüllung sie als selbstverständlich hinnahm, aber es entging ihr nicht, daß seit gestern Abend eine Veränderung mit Siegmund vorgegangen war. Sein Blick war freier, seine Stirn heller geworden obgleich tiefer Ernst ihn beherrschte. Mit innerer Genugthuung sagte sich Ottilie, wie richtig der immerhin gewagte Schritt dieser halb erzwungenen mündlichen Besprechung sich doch erwiesen, und wie zufrieden ihr Mann sein würde, dem feste Gestaltung und Ruhe in jedem Lebensverhältniß Bedürfnis war. Um so weniger war sie auf einen neuen Conflict gefaßt.

Siegmund’s Aeußerung, daß er sich von hier nach Wien begeben wolle, um sich mit seiner Mutter auszusprechen, fiel wie ein Funke in die freundschaftlichen Erörterungen zwischen ihm und dem Ehepaar Seeon, welche bald nach dem Eintreffen der kleinen Reisegesellschaft zur Sprache kamen. Der Graf und die Gräfin bekämpften lebhaft die Absicht dieser Reise, deren Endpunkt eine Versöhnung sein mußte. Ihre eigene Auffassung, ihre Pläne und Absichten waren auf die Voraussetzung gebaut, daß ein für allemal jeder Zusammenhang Siegmund’s mit dieser compromittirten Frau abgebrochen sein müsse. Namentlich bestand Ottilie darauf. So bereit sie zu jeder Gerechtigkeit, zu jedem Entgegenkommen gewesen, so starr hielt sie an dieser Forderung fest, die ihr Grundsätze und Anschauungen geboten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_787.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)