Seite:Die Gartenlaube (1881) 771.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

ohne über dessen Inhalt anderes zu äußern, als daß es Wichtiges enthalte und nur ihm persönlich oder auf Vorzeigen der darauf vermerkten Chiffern ausgehändigt werden dürfe. Der Bürgermeister, ein pedantisch gewissenhafter Mann, erfuhr zwar durch die Zeitungen den bald darauf eingetretenen Todesfall, behielt aber in seiner vorsichtigen, accuraten Weise das Depot unter Verschluß. Angesichts der in meiner Hand bestrichen Chiffern machte er indessen keine Schwierigkeit, es mir zuzustellen Kraft der mir von Gräfin Genoveva Riedegg ausgestellten Vollmacht eröffnete ich das Päckchen. Der Inhalt liegt in Ihren Händen.“

Noch unter dem Eindrucke der gewichtigen Mittheilung nahm Ottilie die vor ihr liegende Brieftasche ihres Vaters, blätterte darin und bezeichnete den beiden Herren eine dort eingeschriebene Zeile. Die eben genannte Adresse und die Chiffern waren hier gleichfalls vermerkt.

„Mein Mann kennt meine Ansichten,“ sagte sie, „ich überlasse ihm, sich über die Lage zu äußern, in der wir und meines Vaters Hinterlassene uns befinden.“

„Angesichts dieser Zeugnisse und persönlich gewonnener Anschauungen sind wir bereit, die Rechte anzuerkennen, welche Sie, Herr Anwalt, vertreten,“ sagte nunmehr Graf Seeon. „Theilen Sie dies der Wittwe meines Schwiegervaters gütigst mit! Wir werden uns mit deren uns bekanntem Sohne persönlich verständigen Mit Genugtuung hebe ich hervor, daß der Großvater meiner Frau diesem Dilemma vorwurfsfrei gegenüber stand. Wir haben den Beweis in Händen, daß ihm die bewußten Papiere niemals vorgelegt wurden. Das herbe Loos, welches Graf Meinhard’s zweite Frau und sein Sohn erlitten, fällt somit auf ein unglückseliges Geschick zurück. Sie, Herr Anwalt, geben uns hoffentlich die Ehre, auf Riedegg Nachtquartier zu nehmen.“

Der Anwalt entschuldigte sein Ablehnen der gebotenen Gastfreundschaft mit der Notwendigkeit baldiger Rückkehr in seine Kanzlei. Der Wagen, welcher ihn von Brixen hierher gebracht, stand noch angespannt – er benutzte ihn sofort zur Rückreise. –

Das Ehepaar Seeon blieb unter lebhaften Gesprächen noch bis tief in die Nacht hinein wach. Der Graf betonte die Nothwendigkeit, sich Genoveva gegenüber, deren früheres Leben man nicht kannte, zunächst reservirt zu verhalten, stimmte aber dem Wunsche seiner Frau, Siegmund mit Herzlichkeit entgegenzukommen, gern zu. Heute erwähnte Ottilie auch zum ersten Male der Neigung zwischen Margarita und Siegmund, derer Wachsen sie beobachtet und zu dämpfen unternommen; der Eindruck, den diese seltsame Wendung der Dinge auf ihr Kind machen würde, beschäftigte die Eltern in nicht geringem Maße.

Margarita weilte noch unter dem Schutze der Tante in S. Ihren Briefen fehlte die ihr eigene Frische; sie sprachen eine fast schwermütige Sehnsucht nach den Eltern aus. Nun wollten diese auch mit der Rückkehr nicht zögern; denn momentan hielt sie nichts mehr aus Riedegg fest. So wurde also der Aufbruch für den folgenden Morgen bestimmt und ausgeführt.

In S. angekommen, erfuhr Ottilie, daß Siegmund abwesend sei und daß er um seinen Abschied nachgesucht habe, und wenige Tage darauf traf die Antwort Genovevas auf den ritterlichen Brief ein, den Graf Seeon noch von Riedegg aus an sie geschrieben und den seine Frau mit unterzeichnet hatte. Er enthielt nur wenige an Ottilie gerichtete Zeilen:

„Frau Gräfin!

Die würdige Weise, mit welcher Sie und Ihr Gemahl sich bereit erklären, mir und meinem Sohne gerecht zu werden, verpflichtet mich Ihnen zu Dank. Ich war es meinem verstorbenen Gatten schuldig, an die Stelle zu treten, welche er uns eingeräumt, aber was mich betrifft, so werde ich mein Recht nicht in Anspruch nehmen; denn ich bin krank und auf Zurückgezogenheit angewiesen. Mein Sohn hat mir die Erklärung zugehen lassen, daß er niemals darein willigen würde, das Erbe seines Vaters anzutreten, und ein zwischen uns bestehender Conflict verbietet mir jede Meinungsäußerung gegen ihn. Ihnen, seiner Halbschwester, sei es überlassen, ob Sie ihn in diesem Paukte umstimmen wollen und können.

In Verehrung
Genoveva Riedegg.“

Diese Zeilen, welche Graf Seeon’s lebhaftes Interesse weckten, erschütterten Ottilie sehr. Sie schrieb noch in derselben Stunde an Siegmund, dessen Verweilen auf der Moosburg sie inzwischen durch Friesack’s erfahren, und sie schrieb bewegter: als sie es sonst zu thun pflegte:

„Mein junger Freund! So will ich Sie heute nennen, Siegmund; denn so kennen wir uns. Noch ist uns Beiden wohl die Vorstellung zu neu, uns als Kinder des gleichen Vaters zu denken. Im Namen dieses Vaters, den von uns Beiden nur ich kannte und liebte, reiche ich Ihnen über die Hand und sage: Sei mir willkommen! Ich ehre das Zartgefühl, welches Sie in diesem Moment fern hält. Menschliches Recht steht aber noch über seinem Empfinden – wir gehören fortan zusammen, und ich wünsche, Ihnen dies Auge in Auge zu sagen. Wir erwarten Sie hier, und bald, mein Mann und ich.

Ottilie.“

Erst nachdem dieser Brief abgesendet, theilte Ottilie ihrer Tochter Alles mit, was sich auf die merkwürdigen Erlebnisse dieser letzten Wochen bezog. Die Besorgniß, das Kind, welches so blaß und still, so ganz verändert umherging, allzu sehr zu erregen, hatte die Eltern vorerst über Begebenheiten schweigen lassen, die bei der gegen Siegmund aufgetauchten Verstimmung eine unerfreuliche Wendung zu nehmen drohten. Nun, wo der junge Verwandte mit jedem nächsten Tage erwartet werden konnte und in reinem Lichte dastand, mußte die Tochter des Hauses erfahren, was dieses Haus so nahe anging, und zur Verwunderung der Mutter nahm Margarita die Kunde durchaus nicht als etwas Außerordentliches auf.

Man wartete mehrere Tage lang auf das Eintreffen Siegmund’s, aber vergebens; denn statt seiner kam ein Brief. Als der Bote ihn brachte, saß Margarita mit ihren Eltern am Frühstückstisch. „Von Siegmund!“ sagte Ottilie und übersah, während sie das Couvert öffnete, daß ihres Kindes Wangen so weiß wurden, wie ihr Morgenkleid.

Die Stirn der Gräfin bewölkte sich, während sie las. Als sie zu Ende war, reichte sie ihrem Manne schweigend den Brief hinüber.

„Bitte!“ sagte Margarita ganz leise.

Graf Seeon warf einen Blick auf sie; dann begann er, ohne das Blatt vorher durchflogen zu haben, laut vorzulesen:

„Haben Sie tiefen Dank für jedes Wort Ihres Briefes, verehrteste Frau! Ihnen nahe zu stehen, die ich liebe und verehre, ist mir ein theures Recht. Aber zu Ihnen kommen kann ich nicht. Erlassen Sie es mir mit ausdrücklichen Worten zu sagen, warum ich es nicht kann! Es besteht ein Verhängniß, dem ich unterworfen bleibe, schuldlos, doch mit betroffen. Der stolze Name unseres Vaters hebt den, der ihn trägt, an eine Stelle, wo er von Vielen gesehen wird, ich aber muß im Schatten stehen Es gab eine Zeit, wo es mir nicht genügend erschien, als Glied eines großen Ganzen zu wirken. Heut erscheint mir gerade Das als mein einziger Lebenszweck, als eine Aufgabe, in deren Lösung ein schwer Betroffener sich ausheilen kann: Meine Absicht ist, mich zur Musik zurückzuwenden und ihr treu zu dienen mit Allem, was ich bin und habe.

Kann es Ihr Rechtsgefühl beruhigen, mir eine bescheidene Rente zu bestimmen, die mich vor Sorgen und Zufällen schützt, so finden Sie mich willig – im Uebrigen gönnen Sie mir, was ich bedarf, wenn ich weiter leben soll: Verborgenheit! Segen über Ihr Haus!

Siegmund Riedegg.“

„Was ist da vorgefallen?“ fragte der Graf ernst, als er zum Schlosse gekommen. „Obgleich noch sehr jung, ist Riedegg doch kein Phantast. Ihn muß Schweres betroffen haben, ich bin aber kein Freund von Rätseln, noch viel weniger von unnatürlicher Resignation“

„Der Brief seiner Mutter sprach von einem Conflict zwischen ihr und ihm,“ erwiderte Ottilie nachdenklich. „Diese neue Wendung stellt uns vor ein Rätsel.“

Margarita war leise aufgestanden, knieete vor ihrer Mutter nieder und stützte beide Arme auf deren Schooß.

„Liebe Mama,“ bat sie innig, „wir müssen zu ihm. Ihr seht ja doch, wie unglücklich er ist.“ Sie stockte einen Augenblick und sties dann errötend und in abgebrochenen Sätzen hervor, was

sie innerlich bewegte: „Ich muß Euch Alles sagen: Er hat –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_771.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)