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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Lois hörte dem Unseligen in tiefer Betroffenheit zu. Als die schmerzliche Beichte zu Ende war, sagte er lebhafter, als in seiner Weise lag:

„Dir muß ich ja glauben – jeden Anderen hätte ich schändlicher Verleumdung geziehen. Vergiß aber nicht, daß Du ihr keine Zeit gelassen, sich zu rechtfertigen! Deine Mutter, die wir Alle kennen so lange Jahre, die edle, auserlesene Frau – unmöglich, unmöglich!“

„Das ist es ja,“ athmete Siegmund schwer hervor. „Die Lüge ist es, die lange, lange, ungeheure Lüge. Jedes Verbrechen hat seine Grenze – die Lüge hat keine. Und sie hat mich belogen Jahr um Jahr, hat mich zur Ehre angefeuert und inzwischen ihre und meine Ehre gebrandmarkt. Wir haben nichts mehr mit einander gemein.“

„Dennoch mußt Du sie anhören, sobald sie es fordert,“ sagte der junge Priester ernst. „Das ist Jeder dem Andern schuldig, und der Sohn ist es seiner Mutter dreifach schuldig. Wie es geschah, daß eine Frau wie diese so tief sinken konnte, ist mir nicht begreiflich, das aber weiß ich: Liebe zu Dir ist eine ihrer Triebfedern gewesen.“

„Liebe –“ wiederholte Siegmund mit unendlicher Bitterkeit.

„Ich sage nicht, daß Du ihr Dank schuldest, weil sie Dich durch schnöde Mittel bereicherte; mit der Schuld läßt sich nicht unterhandeln, gegen den Schuldigen muß man aber Erbarmen üben. Die Mutter, welche uns im Schooße getragen und tausendfache Liebe erwiesen, dürfen wir nicht aus unserem Leben streichen, weil sie fehlte, und sei es noch so Schweres, das sie beging. Dein Gemüth ist jetzt zu tief erschüttert – aber Du wirst einsehen, was Noth thut. Wenn Scham und Verzweiflung, so vor Dir gestanden zu haben, Deine Mutter verstummen lassen, dann ist es an Dir, nun ihr Erklärung über die Lage zu fordern, in der Du sie getroffen.“

„Nie!“ rief Siegmund in starkem Ton. „Jeder Schritt ihr entgegen wäre ein Compromiß mit Schande und Verbrechen. Wir sind von einander geschieden, als wäre es durch den Tod.“

„Siegmund,“ sagte Lois mit namenlos traurigem Blick, „glaubst Du denn, der Tod trennte? O, ich spreche jetzt nicht zu Dir als Priester, der Dir Wiedersehen und Ewigkeit in Erinnerung bringen will, ich spreche als ein armer Menschensohn, der an sich erfahren hat, was Leben und Tod bedeuten.“

„Du?“

„Ich verstehe Dich wohl, Du denkst, ich hätte gar Weniges erfahren, was mir ein Verständniß für Deine Schmerzen gäbe. Aber Du irrst. Willst Du, so sage ich Dir, was Niemand weiß als mein Gewissen und Eine, deren Tod ich verschuldet habe.“

Siegmund sah betroffen auf.

„Ihr saht es Alle nicht,“ fuhr Lois fort, „was zwischen mir und Maxi vorging. Sie war noch halb ein Kind, als sie sich schon meiner Gedanken bemächtigt hatte, und doch wollte ich Priester werden. So ging ich ihr aus dem Wege, kam nicht mehr in den Ferien nach Hause und dachte den Feind in mir bezwungen zu haben. Du weißt, der Mutter Krankheit rief mich heim; da fing es wieder an und schlimmer. Beim Alpbachsturz, als wir Beide zu sterben meinten, kam es zu Worte, und ich ließ mich zum Versprechen hinreißen, meinen priesterlichen Beruf um ihretwillen aufzugeben. Nun folgte harte Zeit; denn ich wußte gut, daß mich nur die heißen Sinne zu ihr rissen, und verzehrte mich in Reue um meinen Beruf – fürchtete mich vor dem Leben mit ihr, die so anders geartet war und sich von Keinem bändigen ließ. Wir hatten häufig Streit; sie versprach mir zu gehorchen und that es nicht, und einmal, als ich ihr deshalb Vorwürfe machte, warf sie mir mein Versprechen vor die Füße und hieß mich zurückgehen in mein Seminar. Sie that das in rascher Aufwallung, in kindischer Weise; dennoch faßte ich sie beim Worte und löste mich von ihr ab. Ich glaubte Recht zu thun oder redete mir das wenigstens ein, weil wir doch nie zusammen glücklich geworden wären und weil ich als Priester Hohes zu wirken meinte. Und so verhärtete ich mich, als ich erfuhr, sie sei krank, und meinte immer noch das Rechte gethan zu haben. Du weißt, wie sie gestorben ist, Siegmund. Seitdem ist sie neben mir und wird da bleiben, bis ich selbst meine Augen schließe. Und so bin ich schuld geworden, daß ein junges Leben zu Grunde ging, an dem gerade ich bestimmt war ein Priesteramt zu üben. Mit solchem Bewußtsein geht es sich schwer durch Tage und Nächte, Siegmund. Dein Schicksal ist ein anderes: Du bist rein von Schuld, aber ich beschwöre Dich: sei nicht hart, wie ich es gewesen! Durchschneide nicht, woran Du unzerreißbar gebunden bleibst, bedenke, daß die Gestalt Deiner Mutter einst so neben Dir hergehen könnte, wie Maxi neben mir! Erbarme Dich der Schuldigen, hilf ihr, sich wieder aufzurichten, ringe den Stolz nieder, der sich in Dir empört gegen Deine eigene Pflicht als Mensch und als Sohn!“

Siegmund sprang auf; sein ganzer Körper bebte. Den dringenden Augen des Mahners auszuweichen, trat er hinweg, blieb dann aber stehen und sagte düster:

„Gegen Schatten kann man sich wehren. Weshalb bleibst Du hier?“

„Wo ich an einem Grabe vorbei muß, so oft ich mein geistliches Amt in der Kirche verrichte, meinst Du? Ich bleibe, weil meine Mutter langsam hinstirbt und ich ihre Augen zudrücken will. Nachher denke ich allerdings zu gehen, hinaus in unsere Berge – zu den Armen und Elenden.“

„Pfarrer im Hochgebirge?“ fragte Siegmund. „Ich hörte oft, das sei ein Märtyreramt. Nun gut! Ich denke in meiner Art zu thun wie Du – nur erwarte sonst nichts von mir! Dir ziemt es, Versöhnung und Vergebung zu empfehlen, aber hier kannst Du mir nicht folgen, der Priester nicht dem Offcier. Lois, sie hat mich selbst dazu erzogen, das Gemeine zu verabscheuen. Das wäscht kein Gott und kein Mensch hinweg – laß es ruhen!“




32.

Während der nächsten Tage brach der Frühling mit Macht in das Thal, welches über und über in Blüthen stand. Die Leute der Gegend, die „den jungen Herrn“ sahen, meinten zwar Alle, er müsse recht krank gewesen sein, weil er gar so verfallen ausschaue, das würde sich aber bald wieder geben. Er ginge ja fleißig spazieren mit dem Herrn Caplan, und wenn man an der Moosburg vorüber käme, höre man ihn Clavier spielen nach Herzenslust. Siegmund brachte wirklich einen guten Theil des Tages am Flügel zu, war überhaupt unablässig beschäftigt – am Schreibtische oder mit Büchern. Tief in die Nacht hinein schimmerte noch das Fenster seines Zimmers. Kam ein verspäteter Wanderer zu Fuß oder Roß das Thal entlang, so mochte sich dieser wohl des friedlichen Scheines freuen, ohne zu ahnen, welche unaussprechliche Qualen sich dort in Einsamkeit ausbluteten. Die stolze junge Seele wollte ihre Wunden Keinen sehen lassen, nicht einmal den Freund, der von ihnen wußte.

Gegen Abend, wenn der Caplan frei war, kam Siegmund hinab, ihn abzuholen; dann wanderten Beide weit hinaus, thaleinwärts, waldauswärts und sprachen über alles Mögliche, was ihre Studien, was Welt und Menschen in ihnen angeregt hatten, nur nicht von Dem, was ihnen am Herzen zehrte. Oft kehrten sie erst bei eingebrochener Nacht zurück, wenn das Dunkel schon den rauschenden Inn bedeckte und die Funken der Schmiedehämmer farbiger sprühen ließ. Beiden ward die Bürde, die sie trugen, gleichsam gelüftet, während sie beisammen waren.

Als Siegmund eines Abends nach solcher Wanderung heimkehrte, sah er zu seiner Verwunderung schon von Weitem die Wohnzimmer der Moosburg erleuchtet. Klas empfing ihn vor der Thür mit der Meldung, Herr Fügen sei angekommen.

Siegmund’s Stirn verdunkelte sich; es war ihm äußerst unlieb, Fügen hier zu sehen, während er sich noch nicht hatte überwinden können, ihm Nachricht zu geben. Es fuhr ihm durch den Kopf, dieser könnte durch Max Friesack oder den Oberst selbst von seinem Abschiedsgesuche gehört haben und käme nun, ihn deshalb zu examiniren. So trat er mit kaum beherrschter Verstimmung ein und erkannte bei seinem ersten Blick auf den alten Freund, daß auch dieser ziemlich finster drein schaute. Ohne ihn erst zu Worte kommen zu lassen, bot Siegmund ihm die Hand und sagte in hastigem, gezwungenem Ton:

„Willkommen auf der Moosburg lieber Meister! Das ist unverhofft – fast vermuthe ich, daß eine von Max colportirte Sensationsnachricht Sie hierher geführt.“

„Nicht eben das,“ erwiderte Fügen etwas trocken. „Es hätte sich wohl zu Hause abwarten lassen, bis solche Novelle direct an mich gelangen würde. Daß Du hier bist, habe ich allerdings durch Max erfahren, was mich herführt, ist aber ein Auftrag Deiner Mutter.“

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