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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Wir? Jetzt wolltest Du nach der Stadt? Ich bin freilich – – Aber habe ein wenig Geduld, es soll nun wieder besser werden.“

„Das hoffe ich – viel besser! Unter dem ‚wir‘ verstand ich übrigens nur mich, die Hannisch und Rudi.“

Förster sah sie mit weit offenen Augen all. Sie begann unbeirrt von Neuem:

„Entschuldige, daß ich so auf eigene Faust gehandelt, doch Dr. Harder ist auch sehr dafür, das Kind eine Weile beobachten zu können. Die Hüfte ist wieder geschwollen – es muß endlich etwas Ernstliches geschehen.“

„Mutter!“

Ein Zittern war in seiner Stimme, sprechender als die beredtesten Worte. Sie nahm seine Hand und sagte blos, indem sie dieselbe streichelte :

„Das ist also abgemacht.“

„Nein!“ rief Förster aufspringend. „Ist Rudi hier auch nicht unter den Augen eines Arztes, so sind wir doch um ihn, und Dr. Harder versicherte mir selbst, das Kind könnte sich in keiner besseren Pflege befinden. Ich danke Dir ja zu tausend Malen: Deine große Güte! Glaube nicht, daß ich nicht Alles begriffe, nicht glücklich bin, solch eine Mutter mein zu nennen!“ Er beugte sich über ihre Hände. „Das Opfer aber nehme ich nicht an, weil sie dessen nicht würdig –“

„Bernhard,“ flehte sie, „mein Sohn, nie mehr ein solches Wort! Du dachtest nur an mich – deshalb überlegtest Du nicht. Jedes Opfers ist Else würdig; denn sie hat Charakter. Und heute, wo nirgends von einem Festhalten an seiner Ueberzeugung die Rede ist, wo sich die Liebe verkauft wie alle andere Waare, da ist jeder Charakter doppelter Ehre werth. Ich muß Else achten, darum gönne ich ihr meinen Bernhard, und Dein Gemüth, Dein liebes Gemüth wird ihr mit der Zeit geben, was ihr noch fehlt. Auch um das Opfer, das ich etwa bringe, sorge nicht! Man gewöhnt sich an Vieles, und außerdem, wenn eine Mutter etwas für ihr Kind thun kann – das verstehst Du trotz Deiner Vaterschaft nicht – so bedeutet selbst das Schwerste gar nichts für sie. In die Stadt zu ziehen und dabei Rudi um sich zu haben, ist aber noch lange, lange nicht das Schwerste.“

„Was willst Du aus mir machen?“

„Etwas sehr Schönes, woran Gott und die Menschen Freude haben – einen so recht glücklichen Ehemann. Und sieh, wäre die alte Mutti nicht immer zur Hinterthür hinausgegangen, wenn vorn das junge Frauchen einzog? Sogar früher, damit die Junge hier Alles auch jung und hübsch fände. Muß ich Dir darum nicht eigentlich danken, wenn Du Dich von etwas so Liebem trennst, um es mir zur Gesellschaft mitzugeben? Fass’ es doch so! Es kommt gar viel darauf an, wie man sich etwas zurecht legt Ein Dutzend Jährchen, denke ich, stehen Einem wohl noch zu. Und wenn mir nicht, so doch wohl der Hannisch – dann ist Rudi erwachsen. Wollte mich aber Schwester Anna bei sich haben – das Kleeblatt ist unzertrennlich.“

Er sah der Mutter tief in die Augen – da zog es ihn mit Allgewalt vor ihr nieder. Und sie legte die Hand wie segnend auf sein Haupt, und ihre Lippen bewegten sich leise – im Gebete.



4.

Auch über Barten hatte in all der Zeit Schwüle gelegen. Zwar sprach Hemmingen über das Vergangene nicht; gerade sein Schweigen aber und ein leicht hervorbrechender Ton von Gereiztheit bei an sich geringfügigen Veranlassungen bewiesen seiner Gattin, wie wenig er mit dieser Wendung der Dinge einverstanden sei. Die Schwester hatte Else gegenüber kein Geheimniß daraus gemacht; auch fühlte diese bald selbst, welche andere Aufnahme jetzt ihr scheinbar sich immer gleich gebliebener Uebermuth fand. Früher stimmten Schwager wie Schwester in Alles gern ein, erhöhten eher noch durch lauten Beifall die Temperatur der Unterhaltung; nun schien der Ernst besonders von Hemmingen’s Gesicht nicht fortzuscherzen. So hatte auch sie nach einigen Tagen vergeblichen Bemühens, die gewohnte Art und Weise festzuhalten, ihrem Wesen Zwang aufgelegt, wodurch vor Allem die Abende in Barten kaum mehr den Abglanz ihres bisherigen Reizes boten. Man war plötzlich daran gewöhnt, sich früh zu trennen, las auch selten noch zusammen oder hörte wenigstens bald wieder auf; kurz, es existirte eigentlich nichts mehr von dem sonstigen harmlosen und doch immer von Neuem anregenden Verkehr.

Else litt am meisten darunter: von den Gatten hatte jeder seine Geschäfte und müßigte sich eben nicht wie früher ganze Stunden der Erholung ab. Dennoch war Else gerecht genug, Niemand als sich die Schuld beizumessen – wenn es Schuld heißen konnte, seiner innersten Ueberzeugung zu folgen. Sie vermochte es einmal nicht, das Ganze anders anzusehen, hatte noch immer denselben Widerwillen davor, jene schwere Pflicht auf sich zu nehmen – so trug sie lieber, was daraus auch entstehen sollte, und wäre das, wenn ihr Hemmingen nicht vergeben konnte, selbst ein Verlassen ihres Asyls. Viel eher in die Fremde, als an eine Stelle, welcher sie sich nicht gewachsen wußte!

Der Kampf wurde ihr nicht leicht. Ihr Zimmer sah manches ruhelose Auf- und Niedergehen bis in die Nacht hinein, ein gleichsam ewiges Erwarten und ein Stillwerden, erst wenn der Tag zur Rüste ging.

Einer Jagd wegen war eines Tages wieder später gegessen worden; man saß noch mit mehreren benachbarten Gutsbesitzern beim Nachtisch, als Else bemerkte, daß Hemmingen etwas gemeldet wurde. Mit einem, wie es ihr schien, freudigen Blick nach ihr hinüber stand er auf und eilte hinaus. Sie hörte nun doch nicht, welche besondere Fährlichkeit ihr Nachbar als Johanniter in Frankreich bestanden hatte, obgleich sie gefällig lächelte – ihre Blicke blieben unverwandt auf die offene Thür gerichtet. Das Pochen des Herzens schien ja zu wissen, es wäre eine Botschaft von Förster oder er selber.

Und da winkte Hemmingen aus dem Nebenzimmer. Sie vermochte vor Erregung kaum ihm zuzunicken – hörte aber noch die Geschichte des Nachbars zu Ende: fassen mußte sie sich erst, bevor sich ihr Schicksal entschied – so oder so.

Nach ein paar Minuten verließ sie den Tisch und ging in ihr Zimmer; da stand sie dann mitten in dem Raum, die Hand an die Brust gedeckt, und erwartete, daß es an der Thür klopfe. Schon? Nein! Doch jetzt – ruhig und fest!

Ebenso ruhig klang ihr „Herein“.

Mit dem ersten Blick auf Förster erkannte sie, daß Veränderungen an demselben vorgegangen waren. Die Augen schienen wie umrändert; ein unruhiges Feuer lohte darin; um die Lippen hatten sich Züge voll Schärfe eingestanden. Dennoch kam er ihr schöner vor – noch männlicher als sonst.

In seiner angenehmen Würde trat er auf sie zu und sagte mit nur leichtem Vibriren der Stimme:

„Hoffentlich zeihen Sie mich ein wenig der Ungalanterie, die mir gewährte Bedenkzeit so hinausgedehnt zu haben?“

Else hatte Alles eher, als solchen halben Scherz erwartet; so fand sie augenblicklich kein passendes Wort der Erwiderung und schlug verwirrt die Augen nieder. Diese bei ihr seltene Hülflosigkeit machte auf Förster den Eindruck, als fühle sie sich gekränkt. Er fügte darum rasch hinzu:

„Sie mißverstehen mich nicht? Was Sie mir aufgegeben hatten, forderte die ganze Kraft des Mannes heraus – und allein wäre die Probe auch kaum bestanden worden, wenigstens von mir nicht“

Sie sah zu ihm auf. Er nickte leicht und fuhr fort: „Ich habe eine Mutter.“

Nochmals hielt er inne, während er vor sich hin, doch gleichsam in die Weite blickte.

„Hätten Sie die Liebe solcher Mutter gekannt, Sie hätten es mir wohl nie so schwer gemacht, an Ihre Neigung zu glauben. Ich wage nicht von Liebe – – Fräulein Else! Sie werden heute schon vergeben müssen, wenn Liebe mit Schmerz wechseln; noch vermag ich beide kaum zu trennen. Doch nein! Nun ich Sie wieder vor mir sehe, deren Anblick ich entbehrt, entbehrt wie noch nie etwas auf Erden, nun glaube ich dennoch, wenn Sie mir ein wenig Zeit ließen, dürfen Sie wahrlich nicht fürchten, je das Geringste zu vermissen – denn ich muß Sie ja lieben, und was hätte vor der Liebe Bestand? Die Mutter nimmt Rudi zu sich – so ist mein Haus gerüstet, Sie zu empfangen. Else, habe ich genug gethan? Darf ich nun sagen – meine Else?“

Sie überließ ihm ihre Hände; er zog sie leidenschaftlich an die Brust, und ihr seit Wochen gequältes Herz entlud sich in einem Thränenstrom. Glückselig sah er auf sie nieder, küßte ihr immer voll Neuem die Stirn, das Haar: bald auch ein Stammeln von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_675.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)