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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

auch das Leben aus dem Menschen macht, in jedem schlummert ein Theil seiner eigenen frühen Jugend, gleichsam deren Seele, ihr besserer Theil, welcher nur auf den Moment wartet, um zu erwachen.

Die Wärme, welche Ottilie dereinst für ihren Vater empfunden, gehörte jetzt ihrem Kinde. Es war eine von Strenge durchwobene Liebe. Trotz mancher Beschränkung genoß aber Margarita die glückseligsten Kinderjahre. Gleich einem Sonnenstrahl glitt die holde Kleine durch das Vaterhaus, stets in beflügeltem Schritte, immer bereit zum Lieben und Freuen, als wären ihre Füßchen nur geschaffen, einher zu tänzeln, ihre weichen Arme nur da, um sich nach Jemand auszustrecken Der Ton freundschaftlicher Einigkeit zwischen den Eltern, der vornehme, aber nicht luxuriöse Zuschnitt des häuslichen wie gesellschaftlichen Lebens, die sorgsam ausgewählte Persönlichkeiten des intimeren Umgangs – Alles, was diese frische Menschenknospe umgab, trug einen harmonischen Charakter

Inzwischen war Graf Seeon zum General avancirt und wurde als Commandant nach S. versetzt. Für die Generalin knüpfte sich bald ein persönliches Interesse an diese Garnisonstadt. Die flüchtige Begegnung Siegmund’s vor drei Jahren war ihrem Gedächtnisse nach und nach entschwunden, obgleich die auffallende Aehnlichkeit des jungen Mannes mit ihrem verstorbenen Vater sie damals nicht wenig frappirt und ihre Gedanken zu alten Zeiten und Fragen zurückgeführt hatte. Als nun aber Lieutenant Friesack ihr gegenüber diese Begegnung berührte, stieg die merkwürdige Aehnlichkeit auf’s Neue und so fragwürdig in ihrem Gedächtnisse auf, daß sie nicht zögern mochte, Näheres über den jungen Mann zu erforschen. Was sie erfuhr, ließ ihr kaum einen Zweifel, daß es sich um keinen Anderen handelte, als um Den, dessen Existenz lange Zeit hindurch ihre Gedanken beschäftigt hatte. Wie aus weiter Ferne und doch so unvergessen schmerzlich erwachte in ihrem Ohre das geheimnißvolle, ihr nie entschleierte Wort des sterbenden Vaters: „Du hast einen Bruder.“

Oberst Friesack hatte ihr gesagt, Siegmund Riedegg’s Herkunft sei einigermaßen dunkel – „keinerlei Papiere seien vorhanden“. Dies bestärkte Ottilie in der Ueberzeugung, daß sie in der Voraussetzung nicht irre, der junge Officier müsse ihr Halbbruder sein.

So ward ihr der Moment, in welchem ihr Max Friesack seinen in die Garnison zurückgekehrten Freund vorstellte, zu einem hochbedeutsamen; sie fand in feinen Zügen, in dem edelgeschnittenen Auge, dem weichen blonden Haar ihren Vater wieder – freilich war diese Aehnlichkeit damals, als sie ihn zuerst sah, im Augenblick flüchtiger Begegnung, wo momentanes Schwanken den energischen Charakter des Gesichtes gleichsam aufhob, rascher erkennbar als heute, wo das anders geartete Naturell ihm bereits seine volle Signatur aufgeprägt hatte. Je öfter Ottilie mit dem jungen Officier zusammentraf, desto unverkennbarer drängte sich ihr jene Aehnlichkeit auf, welche die Natur so geheimnißvoll weiter spinnt – geheimnißvoll! denn oft wiederholt sie eine Bewegung, einen Klang der Stimme, einen raschen Blick sogar da, wo die Zusammengehörigen einander nie gekannt.

Die Beachtung, welche eine so hochgestellte Frau ihm gönnte, setzte Siegmund um so mehr in Erstaunen, als er auf die darauf bezüglichen Aeußerungen seines stets zur Übertreibung geneigten Freundes gar kein Gewicht gelegt hatte. Aber es konnte ihm selbst so wenig entgehen, als es Anderen entging, daß Generalin Seeon ihn auszeichnete, und obgleich dies in der Ottilie eigenen maßvollen Weise geschah, ward ihre sichtliche Bevorzugung eines noch so jungen bürgerlichen Officiers um so mehr bemerkt, als ihr der Ruf größter Exclusivität vorausgegangen war. Dieses Bemerken kam seiner Aufnahme in den geselligen Kreisen zugute. Siegmund’s natürliche Zurückhaltung, welche weit davon entfernt war, je anspruchsvoll zu sein, erhielt das einmal angeregte Interesse wach. Stolz ist nicht, wer es möchte, zurückhaltend ebensowenig; diese Eigenschaften gehören dem Einzelnen zu wie die Farbe seiner Augen, und drücken ihrem Eigner ein vornehmes Gepräge auf; wer sich nicht ausgiebt, bleibt überdies stets interessant.

Wöchentlich einmal, an jedem Donnerstage, fand sich im Salon des Commandanten ein intimer Kreis zusammen. Der eigentliche Inhalt dieser Zusammenkünfte war gute Hausmusik, aber auch die Nichtmusikalischen fanden ihre volle Rechnung während der Plauderstunden vor und bei Tische, da erst nach dem Souper musicirt zu werden pflegte. Gräfin Seeon hatte diese Abende hauptsächlich im Hinblick auf Margarita eingerichtet, welche sie in diesem Winter noch nicht in die große Gesellschaft einzuführen und doch auch nicht mehr auf die Schulstube und den kleinen Familienkreis allein zu beschränken wünschte. Das junge Mädchen, bei dessen Erziehung jede Anlage berücksichtigt worden war, besaß eine sympathische, wohlgeschulte Stimme, spielte auch mit seelenvollem Vortrag Clavier. Hätte die Generalin eines Vorwandes bedurft, um Siegmund häufig bei sich zu sehen, so war ein solcher durch seine hervorragende musikalische Ausbildung geboten.

Es gestaltete sich wie von selbst, daß dem Lieutenant Riedegg die Leitung dieses Theiles der Donnerstagabende zufiel, und seine Beziehungen zum Musikdirector Fügen erleichterten manche Zusammenstellung von Ensembles. Die jungen Leute spielten vierhändig; Siegmund begleitete Margarita’s Gesang und gerieth auf die natürlichste Weise den Damen Seeon gegenüber in die Stellung, ihnen auch außer dem Hause durch kleine Dienstleistungen gefällig zu sein, sie begleiten zu dürfen, wenn der General daran verhindert war, kurz, ihnen häufig zur Seite zu bleiben. Graf Seeon sanctionirte die Auszeichnung, welche seine Frau dem jungen Officier zu Theil werden ließ, indem auch er ihm sein persönliches Interesse zuwandte.

Ottilie hatte ihrem Gatten schon vor Jahren alles mitgetheilt, was sich auf die Sterbestunde ihres Vaters bezog, und hielt nur kurze Zeit mit der Entdeckung zurück, die sie neuerdings gemacht. Der nun eingeweihte General beobachtete Siegmund scharf und war bald ebenso überzeugt, wie seine Frau, daß der junge Mann ganz ahnungslos über die Beziehung sei, welche ihn mit der Familie verband. Er richtete sein Augenmerk auf Siegmund’s militärische Tüchtigkeit und erfuhr mit Vergnügen sowohl durch dessen Regimentscommandeur wie durch manches gesprächsweise Examen, das er mit ihm vornahm, welchen eisernen Fleiß Siegmund seiner wissenschaftlichen Fachausbildung zuwendete.

Graf Seeon freute sich des begabten, strebsamen Officiers, der durch manche am Arbeitstisch verlebte Nachtstunde die Zeit einzubringen wußte, welche er dem Frauendienst gewidmet, und war entschlossen, das Seine dazu zu thun, um diesen ihm, wie er sich scherzend gegen seine Frau äußerte, au natural Verschwägerten nach Möglichkeit zu fördern, sobald sich dazu Zeit und passende Gelegenheit ergeben würde.

Der naiven Grazie Margarita’s gegenüber, die aus der Gewohnheit des Glücklichseins entsprang und eben darum wärmte wie die Sommersonne, ward sich Siegmund erst bewußt, wie fern seine eigene Kindheit und Jugend von solcher Helle geblieben und daß immer irgend ein Schatten auf seinen Weg gefallen sei. Spät war ihm das Bewußtsein aufgegangen, wie düster doch seine geliebte Mutter während seiner Kinderjahre dahin gelebt, wenn ihre Zärtlichkeit auch ihn selbst nichts hatte vermissen lassen, als vielleicht ein Licht, welches er nur deshalb nicht entbehrte, weil er es nicht kannte. Und dann die Trennung, die anfangs herben Schuljahre, die eigenen Seelenkämpfe, endlich der Krieg – immer ein ernster, ein hemmender Zug, woraus sein Wesen allmählich diese Beimischung von Schwere erhalten, welche ihm unmöglich machte, ohne Prüfung zu ergreifen und zu genießen, was die Stunde bot. Die beschwingte Natur Margarita’s erhob ihn aber gleichsam mit sich in eine leichtere Sphäre, in eine Sonnennähe, wo es sich ganz von selbst verstand, daß dort nur Himmelblau und Wärme zu finden sei. Es war vor Allem dieses Kindes Herzensgüte, was ihn anzog; ihre unschuldigen Augen trübten sich nur, wenn sie von Mangel oder Kummer hörte, und sie ruhte dann nicht, bis sie ausfindig gemacht, womit Trost und Hülfe wenigstes zu versuchen sei; ihr Vater pflegte sie damit zu necken, daß sie schon als kleines Kind stets erblaßt wäre, wenn ihre Puppe unvorsichtig gestoßen ward.

Margarita verkehrte in harmlosester Zutraulichkeit mit dem junge Hausfreunde, der stets zur Stelle war, wenn etwas Schönes in Aussicht stand, und der ihr nach und nach mit ihrer geliebten Musik in Eins verwuchs. Trotz ihrer reizenden Natürlichkeit bestand eine kleine Nuance zwischen dem Ton, welchen sie ihm oder Anderen, z. B. Max Friesack gegenüber anschlug. Obgleich dieser gutherzige Mensch, der mit rührender Liebe an dem ihm geistig überlegenen Siegmund hing, meinte, dem Freunde Alles zu gönnen, was zwischen Himmel und Erde zu erreichen war, fing er nun doch an, sich innerlich mit einigem Neid herumzuschlagen; denn er hatte sich in kürzester Frist bis über die Ohren in Margarita verliebt und hätte seinen kleinen Finger darum gegeben, wäre ihm vergönnt gewesen, so oft um sie zu sein, wie sein glücklicherer Freund. Dennoch war er nicht eifersüchtig auf ihn. So oft Max

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 671. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_671.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)