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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Heinrich der Achte und Anna Boleyn.
Eine historische Skizze.

Heinrich der Achte von England hat eine böse Rolle als Ehemann gespielt, und die Frauenwelt nennt seinen Namen nicht ohne Grund mit einem heimlichen Grauen. Von seiner ersten Gemahlin Katharina von Arragonien erzwang er die Ehescheidung; Anna Boleyn, ihre Nachfolgerin, ließ er hinrichten; Johanna Seymour, die dritte Frau, starb im ersten Wochenbett; Anna von Cleve, die nächste, entließ er kurzer Hand, sobald er sie näher kennen gelernt; die fünfte, Katharina Howard, überlieferte er wiederum dem Henker, und erst die sechste, Katharina Paer, wußte sich durch die gefährlichen Klippen dieses Ehestandes mit Glück hindurch zu winden und neben dem alternden Fürsten zu behaupten. So hat Heinrich in der That etwas von dem frauenmörderischen Blaubart des Märchens.

Es ist unmöglich, die Behandlung, welche Heinrich der Ehestandsfrage angedeihen ließ, zu rechtfertigen; eine mildere Beurtheilung, als die flüchtige Zusammenstellung der Thatsachen sie erlaubt, ergiebt sich allenfalls, wenn man die Figur des Mannes, seinen Charakter, seine Denk- und Handlungsweise im Zusammenhang mit der politischen Rolle, welche er spielte, geschichtlich werden und wachsen sieht. Nicht nur, daß die Politik direct das Geschick der einen und anderen jener Frauen bestimmte: der selbstherrliche, rücksichtslose und gewaltthätige Zug, der von vornherein im Wesen Heinrich’s lag, wurde durch die Kämpfe, die er mit kirchlicher und weltlicher Macht zu bestehen hatte, gerade bezüglich der Ehescheidungsfrage fast bis zum krankhaften Eigensinn gesteigert.

Für Heinrich’s Verhältniß zu seinen Frauen wirkte die Scheidung von Katharina von Arragonien grundlegend. Als Gattin des Prinzen Thronfolgers Arthnr war sie an den englischen Hof gekommen und als jungfräuliche Wittwe dem Bruder ihres verstorbenen Gatten, Heinrich, angelobt worden, da er fünfzehn Jahre zählte; fromm wie eine spanische Infantin, ernst und gediegen, voll häuslicher Tugenden, eine in jeder Beziehung ansprechende Erscheinung, erzwingt sie die Achtung und Theilnahme des Geschichtsforschers. Der Papst hatte zu dieser uncanonischen Ehe mit des Bruders Weib den Dispens gegeben, aber der junge Heinrich protestirte vor dem Staatssecretär, dem Bischof von Winchester, wegen seiner zu großen Jugend; als er indeß zur Regierung gekommen und dem Lande eine Mutter geben sollte, war es doch Katharina, welche er zur Königin kürte.

Sie war noch jugendlich blühend, obschon älter als Heinrich; ihre vornehme geistige Art imponirte ihm; ihre Jugend reizte ihn noch, allein er liebte in starkem Kraftgefühl und jugendlicher Sinnlichkeit bunte, lebensvolle Feste, bei denen sich Schönheit, ritterliche Waffenspiele, bei denen sich Kraft entfaltete, und er war darum Katharina, welche aus den spanischen Stiefeln nie recht heraus kam und „jede Stunde für verloren hielt, welche sie am Putztisch zubrachte“, wohl nie recht treu.

Sie gebar ihm eine Tochter, die am Leben blieb, zwei Söhne, welche starben; der Mangel eines männlichen Erben wurde als Gottesfluch gedeutet, weil die Ehe gegen das göttliche Gebot verstoße, und eines Tages hatte der allmächtige Lenker der Geschicke Englands, Cardinal Wolfey, den Plan, England, statt an Spanien, an Frankreich zu knüpfen und so Kaiser Karl den Fürsten, den Neffen der Katharina, recht empfindlich dafür zu kränken, daß er ihm nicht auf den päpstlichen Stuhl verholfen. Zugleich sollte Katharina als Opfer seiner politischen Pläne fallen. Heinrich stimmte zu.

Lange zogen sich die Ehescheidungs-Verhandlungen mit Rom hin. Und nun trat Anna Boleyn in die Scene. Heinrich verliebte sich in diese jugendliche Schönheit, und da sie sich weigerte, seine Maitresse zu werden, versteifte er sich darauf, sie zur Königin zu machen. So bekamen mit einem Schlage alle bisher für die Scheidung geltend gemachten Gründe: der mangelnde Erbe, die uncanonische Ehe, die Lossagung von Spanien-Deutschland zu Gunsten fester Annäherung an Frankreich, eine zwingende Gewalt.

Die Boleyn’s gehörten, wiewohl seit nicht langer Zeit, den vornehmsten Geschlechtern an. Die Familie stand unter Heinrich dem Achten in höchstem Ansehen: Herzog Thomas von Norfolk, der Oheim der Anna, war Großschatzmeister, der erste weltliche Minister Heinrich’s und der vornehmste Magnat am Hofe. Anna hatte ihre Jugend fröhlich im Schlosse Rochford verlebt, und als im Spätsommer 1514 Heinrich’s schöne Schwester Maria sich nach Frankreich einschiffte, um – ein Opfer der Politik – dem dreiundfünfzigjährigen Ludwig dem Zwölften angetraut zu werden, da befand sich in ihrem Gefolge auch die etwa dreizehnjährige Anna, die dann später am Hofe der edlen Claude de France, der „guten Königin“ und der Margarethe von Valois Tage des Glanzes verlebte, bis sie von ihrem Vater nach England zurückgerufen und als Hofdame dem Hofstaate der Königin Katharina einverleibt wurde.

„Ein hübsches Geschöpf, schön gewachsen, artig, liebenswürdig, sehr angenehm und eine gute Musikerin,“ so schildert sie ein alter Schriftsteller, und ein anderer berichtet: sie habe alle anderen Hofdamen rasch durch ihr liebenswürdiges Wesen und musterhaftes Betragen weit hinter sich gelassen. Man rühmte den Adel ihrer Haltung und das Ausdrucksvolle ihrer Augen. Uebrigens galt sie für eine versteckte Reformirte, und sie hatte entschieden protestantische Neigungen aus der Umgebung Margarethen’s mitgebracht.

Daß Heinrich sie mit heimlichem Wohlgefallen betrachtete, ward bald bemerkt.

Im Dienste des Cardinals Wolsey stand Lord Percy, der älteste Sohn des Herzogs von Northumberland. Nicht lange, so verband ihn glühende Neigung mit Anna, und die Beiden sahen nichts, was ihrer Vereinigung hätte im Wege stehen sollen. Allein sie hatten die Rechnung ohne den König gemacht.

Eines Tages hatte Percy Dienst beim Cardinal. Ganz unvermuthet fuhr ihn dieser an:

„Bist Du von Sinnen, daß Du wagst, ohne Einwilligung Deines Vaters und des Königs mit diesem Fräulein anzubändeln? Du wirst sofort mit ihr brechen.“

Der bestürzte Liebhaber bat unter Thränen, der Cardinal möge seine Neigung unterstützen.

„Laß Dir nicht einfallen, sie je wieder zu sprechen,“ war die Antwort. Zugleich mußte Anna den Hof verlassen.

„Für diese Kränkung will ich Rache nehmen!“ rief sie in ihrer Herzensnoth, da sie von London nach Schloß Hever ging. Wenige Tage später verlobte sich Percy mit Lady Mary Talbot. Anna weinte; dann verachtete sie den Ungetreuen, wie sie den Cardinal haßte.

Sir Thomas Boleyn aber nahm die Verbannung der Tochter vom Hofe sehr übel, und bald setzte er für sie die Erlaubniß zur Rückkehr durch. Percy war ja nun unschädlich, sie selbst rasch getröstet. Das hübsche schlanke Mädchen mit dem schwarzen Haar und den großen lebhaften Augen, welches sang wie eine Nachtigall, tanzte wie eine Elfe, ein wenig kokett und doch spröde dabei war und von liebenswürdigem Scherz und treffenden Antworten sprudelte, ohne je die gute Haltung zu verlieren oder den Grazien ungetreu zu werden, bezauberte Alles.

Sie war damals zwanzig, Katharina vierzig Jahre alt. Heinrich beschenkte sie mit Geschmeide – das war noch nicht auffällig. Aber einst war er mit ihr allein, und da gestand er ihr, daß er sie anbete. Sie stürzte ihm wie von einem Blitzschlag getroffen zu Füßen und rief unter Thränen:

„Sire, Ihr wollt mich nur auf die Probe stellen. Wo nicht: lieber mein Leben verlieren, als meine Ehre!“

Und als Heinrich meinte: sie möge ihm nicht alle Hoffnung nehmen, erhob sie sich und sagte mit Stolz:

„Ich begreife nicht, wie das möglich sein soll. Euer Weib kann ich nicht sein; denn Ihr seid verheiratet, und wenn dem auch nicht so wäre, ich wäre dieser Ehre nicht würdig. Eure Geliebte aber – seid versichert! – werde ich niemals sein.“

Sechs Jahre lang widerstand sie seinen Verführungskünsten, trotzig, heftig abweisend. Niemand wagte an ihrer Ehrenhaftigkeit zu zweifeln; selbst die Königin behandelte sie nach wie vor mit Freundlichkeit und Achtung. Eines Tages aber gab ihr Katharina zu verstehen, daß sie Alles wisse. Sie spielte mit ihr Karte – Heinrich war zugegen. Anna hatte oft den König im Spiel.

„Ihr habt Glück mit dem König, Mylady,“ sagte Katharina laut; „Ihr macht es nicht wie die Anderen: Ihr wollt Alles oder Nichts.“

Die Hofdame erröthete; von da ab wurden ihr die Gunstbezeigungen des Königs unerträglich, und sie verließ den Hof.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_663.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)