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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

das Kind war und war nicht abzuschütteln. Und die Großmutter! Ihr ewiges Sorgen für Rudichen; sie werden den Jungen noch zu einem völlig unleidlichen Geschöpfe machen.“

„Das Kind ist vierjährig und momentan so kränklich,“ entschuldigte Hemmingen, „darum wollte es Förster wohl nicht aufregen. Sonst – Du weißt es auch, Doris – gestattet er ihm keineswegs allen Willen. Zudem dürften hier mit der wachsenden Vernunft ganz andere Empfindungen in den Vordergrund treten, als unliebenswürdig-egoistische. Doctor Harder vermag eben keinerlei Hoffnung zu geben, daß die Krücke je wieder entbehrlich würde.“

„Das ist durchaus ein schweres Geschick,“ erwiderte Else, „ich kann es aber trotzdem nicht billigen, seine Bekannten nun fortwährend in Mitleidenschaft zu ziehen. Von diesem reizenden Hans spricht Niemand; Rudi ist geradezu Alles geworden. Ich habe von der Großmutter schon an dem einen Nachmittag beinahe jede Phase seiner Leidensgeschichte vom Sturze an gehört; ja, zum Schluß, als wir uns anzogen und diese Frau Hannisch die Mäntel umgab, fing die sogar davon an. Ich beeilte mich natürlich, was ich konnte, und nun will meine Kapuze nicht sitzen.“

Frau von Hemmingen half, und so bekam die nur im Eifer verschobene Kapuze wieder den richtigen Sitz.

Es wurde einige Augenblicke lang still im Wagen. Else wie Hemmingen sahen in die winterliche Landschaft hinaus, welche sich bei dem leichten Nebel wie umschleiert hinbreitete. Unabsehbar Acker an Acker, nur selten von der Silhouette eines Baumes oder Gehöftes unterbrochen. Die Oede der Gegend schien Else plötzlich anzufrösteln; sie lehnte sich wieder in ihre Ecke zurück und schloß die Augen.

Irgendwo in der Ferne schlugen Hunde an; Hemmingen sah zerstreut nach der Richtung, dann sagte er wie aus Gedanken heraus: „Ob man wirklich das Recht hätte, von seinen nächsten Bekannten zu fordern, daß sie uns mit ihren Leiden, großen wie kleinen, verschonten? Hieße das dem Egoismus nicht völlig Thür und Thor öffnen? Und was bliebe von aller Unterhaltung? Immerfort kann uns doch auch nicht das Metier beschäftige – weder die Kunst noch die Wissenschaft, selbst im weitesten Sinne gefaßt. Wir wollen und müssen auch direct von uns und unseren Nächsten leben; da gilt dann freilich oft das alte Losungswort: Leben – Leiden.“

Else hatte sich bald, nachdem er begonnen, lebhaft aufgerichtet und erwiderte nun:

„Sie wissen, darauf höre ich gar nicht. Das Leben ist zur Freude da, für mich nur zum Genießen, und zwar von meiner lieben Doris knusprigen Morgenbrödchen an bis zum letzten müden Blick, der an den Spitzen des Kopfkissens verdämmert. Nicht charmant gesagt? Bester Schwager, machen Sie nicht ein so finsteres Gesicht! Ja, ja!“ fahr sie auf eine lässige Handbewegung Hemmingen’s fort, „es ist so. Nun, für das große Allgemeine muß ich es Ihnen ja so wie so zugeben – niemals aber für mich, wenigstens für jetzt – nein niemals! Mir sind entre nous die beiden Jahre in Königsberg entsetzlich lang geworden, und hätte ich nicht damals meinen Kopf darauf gesetzt, ich wäre längst aus der Lehre gelaufen. Jetzt ist das aber vorüber; ich habe das Zeugniß der Reife in der Tasche, nein, im Koffer. Nun will ich auch meine Jugend – neunzehn Jahre und drei Monate nennen Sie hoffentlich noch jung? – genießen, ach, nichts als genießen.“

Sie zog die Schwester an sich heran und küßte sie rasch auf Wange und Mund.

„Wildfang!“ wehrte diese.

„Wir sind bereits wieder ehrbar,“ begann Else in so tiefen Tönen, wie sie ihr zu Gebote standen „sonst wird Monsieur Hemmingen wirklich böse. Die Geschichte vom Krüppelchen lasse ich mir aber trotzdem nicht zum dritten Mal erzählen; ob man auch zu Egoismus und Hartherzigkeit verurtheilt wird, es bleibt dabei – nach Burgsdorf fahrt Ihr künftig allein. – O, da ist unsere Gartenmauer schon! Wie Brillant heute bellt! Und Bergmännchen, Waldine – das reine Concert!“

Der Wagen kam nun auf Steinpflaster; noch einige Minuten, dann hielt er vor der Hauptthür eines langen, einstöckigen Hauses, an welchem sich nur der Mittelvorsprung durch reicheren Schmuck von Sandstein-Ornamenten auszeichnete. Ein Diener und ein Mädchen, die bereits wartend auf der Rampe gestanden, halfen beim Aussteigen; Else begrüßte zärtlich die beiden Bracken, dann verabschiedet sie sich gleich für heute bei den Ihrigen, da sie von der schwierigen Vertheidigung angegriffen sei, wie sie dem Schwager auf’s Ernsthafteste versicherte.

Dieser, welcher seinen Pelz dem Diener überlassen warf sich im Wohnzimmer in einen Sessel und sah vor sich nieder. Als das Mädchen, mit Doris’ Mantel und sonstigen Umhängen beladen, gegangen war, sagte er in einer Art verzweifelten Humors:

„Was soll das nun geben? Förster will morgen um Else anhalten?“

Doris, die sich am Spiegel ihr Haar ordnete, drehte sich erschrocken um, antwortete aber im ersten Moment nicht.

„Er glaubt ihrer Neigung bereits sicher zu sein,“ fuhr Hemmingen fort. „Ich konnte ja weder zu- noch abreden; was weiß ich, wie die Beiden mit einander stehen!“

„O, das ist schlimm,“ versetzte Doris.

„Hast Du denn in letzter Zeit bei ihr ein wärmeres Interesse für Förster bemerkt?“

„Jedenfalls ist er ihr nicht gleichgültig.“

„Und dabei diese Lieblosigkeit, ja Härte gegen das Kind!“

Doris trat zu dem Gatten heran und legte ihre Hand wie besänftigend auf seinen Arm:

„Je strenger wir urtheilen, um so mehr fühle wir mitunter. Es war ein unglücklicher Zufall, daß wir gerade heute hingefahren sind; selbst ich habe das Kind noch nie so unliebenswürdig gesehen.“

Eine Pause entstand.

„Alles in Allem,“ fuhr dann Hemminge auf, „wollen wir den Zufall jedoch eher einen glücklichen nennen. Nun ist keine Illusion möglich; sie weiß, was ihrer wartet, und kann sich also genau prüfen, ob für sie bei dem gebotenen Glück Licht oder Schatten überwiegt. Denn für ein Glück wäre dieser Antrag immerhin zu erachten, natürlich nach menschlichem Ermessen.“

Doris nickte.

„Förster ist ein so durch und durch nobler Mensch. In so mancher delicaten Lage haben wir seinen Tact ja geradezu bewundert. Sein Reichthum dabei, die distinguirte Erscheinung –“

„O, viel mehr als distinguirt!“ unterbrach ihn Doris, „wir rechnen Förster zu den schönen Männern.“

„Meinetwegen auch zu den schönen! Um so mehr des Glückes also, wenn es ein Glück ist, einen schönen Mann zu besitzen. Das mußt Du doch am besten wissen?“

„Es ist ein Glück.“ Dabei beugte sich Doris zu ihm herab und küßte seine Stirn. Beide mußten lächeln.

„Ich habe morgen ja Termin,“ begann Hemmingen von Neuem, „kann Förster also nicht einmal einen Wink gebe.“

„Wäre das überhaupt richtig?“ fragte Doris zweifelnd. „Einer von beiden Theilen muß da wohl unbefangen bleibe.“

„So willst Du Else darauf vorbereiten?“

„Besonders nach dem, was wir eben von ihr gehört haben, halte ich es für Pflicht. Sie könnte bei ihrer Neigung, nur dem augenblicklichen Impuls zu folgen, etwas ablehnen, was sie später vielleicht lebenslang bedauerte. Else hat bei all ihrer Wärme und Lebhaftigkeit jetzt oft etwas Scheues, in sich Zurückgezogenes; auch scheint es mir Interesse zu beweisen, daß sie niemals mit mir über Förster spricht, ihm hier und da sogar aus dem Wege geht. Heute hat sie nur der Aerger über Rudi und Dein Widerspruch gereizt, so viel von jenem Hause zu sprechen.“

„Nun, Förster kommt erst gegen Abend; so habt Ihr vollkommen Zeit, darüber einig zu werde. Ich werde bis Sechs zurück sein und Friedrich ein paar Fläschchen kalt stellen lassen?“

Doris zuckte leicht die Achseln. „Ich wage nichts Bestimmtes zu sagen – wie Du denkst,“ meinte sie.

„Schaden kann es ja nie. Kommt es zu Nichts, so trinken wir wenigstens Alle zusammen einen Kummertropfen. Weißt Du, wie es immer bei Euch eine Kummertorte gab, wenn Jemand fortreiste? Weigert sich Else übriges entschieden, so müßte Förster wohl darauf vorbereitet werden? Dann heiße ihn mich nur erwarten – das wird er schon verstehen. Mache Deine Sache gut! Man wird sich doch zu etwas so Aeußerem, wie solchem Kinde stellen können! Das Geschöpfchen ist ja noch wie Wachs, jedem Einfluß zugänglich. Stelle ihr das nur richtig vor – die großen Vorzüge der Partie drängen sich schon von selbst auf. Ich hoffe nun eigentlich doch das Beste.“

Damit erhob er sich, nahm die Lampe und ging seiner Gattin nach dem Schlafzimmer voran.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_654.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)