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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 40   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Das Krüppelchen.
Erzählung von Karl Theodor Schultz.


1.

Der schwere Verdeckwagen bog in die Chaussee ein und rollte nun leiser, bald auch langsamer die kleine Anhöhe vor Barten hinan. Die Insassen des Wagens, welche bisher, in ihre Ecken zurückgelehnt, geschwiegen, da die Erlebnisse des Abends sie noch beschäftigten, auch das Knirschen und Mahlen der Räder in dem frisch aufgeschütteten Kiese des Landweges jede Unterhaltung erschwert hätte, richteten sich jetzt auf, und eine der Damen, welche im Fond saßen, rief mit einem Seufzer der Erleichterung:

„Endlich die Chaussee!“

„Ja!“ bestätigte gleichsam der ihr gegenüber sitzende Herr, „selbst ein aufgebesserter ostpreußischer Landweg hat seine Mucken.“

„Dieser Burgsdorfer war doch stets einer unserer besten!“ vertheidigte die andere Dame im Fond den eben zurückgelegten Landweg.

„Erst kommen aber unsere Bartener, der nach Werkersheim allenfalls ausgenommen,“ erklärte die Dame, welche vorher den Seufzer ausgestoßen hatte. Der Herr verbeugte sich leicht. „Dann,“ fuhr dieselbe fort, „darf eine ganze Weile nichts kommen – und zum Schlusse meinetwegen diese Burgsdorfer Mole!“ Sie sah zum Fenster hinaus. „Das Licht muß in Försters Saale sein, nicht wahr?“

„Die schwarzen Massen links sind der Park? Gewiß!“ erwiderte der Herr sich verbeugend. „Uebrigens ein vortreffliches Orientirungsvermögen!“

„Das lernt sich beim Zeichnen,“ antwortete die Dame. „Aber seht nur die Weidenstümpfe längs des Weges! Hocken sie nicht wie Gespenster da?“

„Die Weide ist ein alter Unheilsbaum,“ sagte der Heer sinnend. „Denken Sie an Ophelia – Desdemona:

„Heiß rollt ihr die Thrän’ und erweicht das Gestein, Singt Weide, Weide, Weide!“

„Nun so bald fahre ich ja den Weg nicht mehr.“ „Aber warum nicht?“ fiel der Herr ein, „der armen Weiden wegen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Hat Dir etwa Frau Förster in ihrer Häuslichkeit weniger gefallen?“ fragte die andere Dame, sich ihr zuwendend.

„O nein!“ rief die Angeredete, indem sie sich so tief zurücklehnte, daß man ihr Gesicht kaum aus der Umrahmung des weiten Schwanpelzwerks hervorschimmern sah. „Ich ertrage das Krüppelchen nicht.“

„Wieder die ganze Else,“ sagte die Dame im Tone des Tadels zu ihrem Gegenüber.

„Nun, Hemmingen wenigstens wird mir nachfühlen …“

„Nein, beste Schwägerin!“ unterbrach dieser: „Neulich sprachen wir im halben Scherze darüber; wenn Sie jedoch im Ernste –“

„Im vollen Ernste!“ trotzte Else. „Für mich ist dieser vielgeliebte Rudi ein krüppliges Kind, wie unser Großpaschchen zu sagen pflegte.“

„Vergeben Sie mir,“ entgegnete Herr von Hemmingen, „ich stehe hier aber vor etwas Unbegreiflichem. Sie machen Ihr Gouvernantenexamen, damit Sie sich, wenn es Ihnen einmal belieben sollte, sogar ganz der Erziehung widmen können, und nun erscheint Ihnen gerade ein Kind, welches Aller Mitleid in so hohem Grade –“

„Das ist es ja eben! Ich würde todtkrank, wenn ich dieses Stapfen seiner Krücke oft hören müßte: und das rückt immer an, tapp, tapp – wie ein kleiner Comthur. Außerdem hat man bei der grenzenlosen Verzogenheit des Kindes auch noch sonstige unangenehme Gefühle, kurz, mich bekommt Ihr nicht zu Försters.“

Hemmingen sah seine Gattin an und erwiderte mißbilligend :

„Dann ist Mitleid doch wohl kaum einer Ihrer besonderen Vorzüge? Daß dieses unglückliche, seit Jahren leidende Geschöpfchen in gewissem Sinne verzogen ist, sollte bei einer Beurtheilung desselben wirklich nicht in’s Gewicht fallen.“

„O, was einmal da ist, ist eben da,“ wehrte Else ab. „Ich mindestens kann an dem, was mir widrig, nie vorbei, ohne es zu bemerken – sehr zu bemerken. So plaudere ich mit Förster allerliebst über Königsberg ; wir tauschen unsere Erinnerungen aus – und er will gerade etwas Interessantes erzählen, das in der Königshalle passirt ist, da stapft dieser kleine Unhold auf uns zu – ich hörte ihn schon durch drei Zimmer – und briselt und maut, bis der Vater schwach genug ist, mit ihm zu gehen. Dabei guckt mich das Kind ordentlich höhnisch an.“

„Könnte mich durchaus nicht wundern,“ versetzte Hemmingen. „Kinder wissen ja immer gleich, wer ein Herz für sie hat oder sie nur duldet, und nun gar Sie mit Ihrer ausgesprochenen Abneigung!“

„Heute war Förster übrigens besonders schwach,“ warf Hemmingen’s Gattin hin, „und Rudi merkwürdig erregt. Daß er uns auch um des Vaters Singen brachte –“

„Nicht wahr, Doris?“ fiel Else ein. „Ganz unerträglich!

Ich hatte um dieses einzige Lied gebeten, freute mich so darauf –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 653. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_653.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)