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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Norderney.

Eine Studie von der deutschen Nordseeküste.

Unter den Düneninseln, welche in geschlossener Kette sich an der hannöverschen Küste hinziehe und von denen die eine, Juist, dem „Gartenlauben“-Leser bereits früher (vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1880, Nr. 8) in Wort und Bild nahe gebracht wurde, ist Norderney die bekannteste, besuchteste, vornehmste. Sie war einmal „Hofnordseebad“, Hoflieferantin für die Gesundheitsbedürfnisse der hannöverischen Welfendynastie verflossenen Angedenkens, und damit zugleich natürlich officielles Seebad des Adels. Allein es schwebt um diese Insel auch ein literarischer Nimbus. Wer seinen Heine gelesen hat, oder auch nur jene galgenhumoristisch-farbenreiche Skizze Spielhagen’s in der Sammlung „Aus meinem Skizzenbuche“, der wird das empfinden.

Norderney: Villa Knyphausen und Villa Fresena.
Originalzeichnung von Fr. Schreyer.

Norderney ist wohl auch die größte dieser Inseln, obschon Maßverhältnisse bei diesen Kindern des Seesandes immer etwas Problematisches haben. Man findet sie Morgens unter Umstände ein halb Mal kleiner, als Mittags; die Fluth macht sie abnehmen, die Ebbe wachsen. Man könnte sie Mondinseln nennen. Wer sich gewissenhaft über die Große von Norderney zu unterrichten beabsichtigt, sieht sich voll Erstaunen vor die Thatsache gestellt, daß hier ein Buch die Länge der Insel auf fünf, dort eines auf sieben Viertelstunden, ja der getreue Eckart unserer reiselustigen Gegenwart, Bädeker, auf drei Stunden berechnet. Und während nach Letzterem die Insel zwei Stunden in der Breite mißt, schrumpft diese Breite in der Riefkohl’schen Monographie über Norderney auf „höchstens“ eine Viertelstunde zusammen.

Ueberlassen wir die Ausgleichung dieser immerhin erheblichen Unterschiede den Geographen von Fach, und versuche wir vor allen Dingen, auf die Insel selbst zu gelangen! Das ist nun freilich nichts weniger als schwierig. Nur die Wahl macht die Qual.

Wolle wir den Dampfer von Geestemünde-Bremerhaven aus benutzen? Täglich, ausgenommen Sonntags, ist Gelegenheit dazu; in – vier bis sieben Stunde sind wir da. Bequem ist die Fahrt auf dem stattlichen Dampfer; bei ruhiger See fährt das Fahrzeug des Norddeutschen Lloyd durch das offene Meer nördlich von der Inselreihe. Drohe dagegen Sturmwolke am Himmel, so arbeitet sich der Dampfer durch das seichte, stille Wattenmeer hin, links die festländische Küste, flach, oft wie mit dem Lineal gezogen, rechts blendendes Wasser, während am Horizont zuweilen die niederen Dünenreihen der Inseln auftauchen. Auch seekrank kann man werden, wenn ein tüchtiger Wind vom Jahdebusen her die nöthigen Wellen dazu liefert. Endlich, endlich –

Aber wollen wir nicht lieber von Emden durch den Dollart fahren, jenen unheimlichen Meerbusen, welcher wie eine Riesescylla an die vierzig Dörfer verschluckt haben soll?

Oder bequemer noch: wir fahren mit der Omnibusgelegenheit von Emden nach Norden und Norddeich. Dort harrt unser tagtäglich eine Ueberfahrtgelegenheit mit einem Dampfboot, welche uns nicht einmal eine Stunde, vielleicht nur eine halbe, auf der See hält.

Oder – wollen wir zu Wagen hinüber fahren?

Das ist eine einzige Fahrt. Von Norddeich geht es auf dem steinernen Damm hin nach dem Hilgenrieder Siel, durch von der Ebbe bloßgelegten Sand, durch Seewasser sogar, das bis über die Räder reicht und unheimlich und nervenerschütternd an den Wagenschlag plätschert, eine Viertelstunde lang, vielleicht eine ganze Stunde und mehr. Die Postpferde machen das so ruhig ab, als stammten sie aus dem Marstall des Heidengottes Neptun, und es giebt Leute genug, für welche das Gruseln zu den Reizen des Lebens gehört und die sich darum eine solche Fahrt loben werden. Indeß wir sind Landratten, welche gern etwas Langeweile in Kauf nehmen, wenn sie sich recht lange „auf See“ fühlen können, eine Bezeichnung, welche freilich für das Wattemeer eine Schmeichelei bedeutet. Zudem ist der Bremer Dampfer so comfortable –

Das ist Norderney.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_644.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)