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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

mitten in der Noth ist, verlangt Hülfeleistungen und keine guten Rathschläge, wenn diese auch unter Umständen sehr nützlich sein können.

So kommt die staatliche Gesundheitspflege, wenn sie als allgemeine Theorie auftritt, in die Verlegenheit, ein bedenkliches Agitationsmittel für unmögliches und maßlose Bestrebungen zu werden. „Schafft vor Allem das Elend und die Armuth aus der Welt“ so lautet die Schlußfolgerung des natürlichen Verstandes, wenn die belehrenden Schriften ihm nichts weiter beweisen können, als daß es zur Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt dient, wenn Jeder Schädlichkeiten vermeiden und gemächlich leben kann.

Schon lange hat sich für die hygienische Wissenschaft aus solchen Betrachtungen die Aufgabe entwickelt, die verschwommenen Grenzen des für die öffentliche Wohlfahrt Notwendigen und des nur Angenehmen oder Nützlichen schärfer kennen zu lehren. Wo streitende Pflichten und Rechte auf diesem Gebiet in Frage kommen, hebt die allgemeine Belehrung bei dem Begreifen des Zeitgedankens an, daß alle menschlichen Interessen auf’s Innigste unter einander verknüpft sind, daß keine menschliche Gemeinschaft mehr gedacht werden kann, sie mag sich Stadt, Dorf, Rittergut, Fabrikort oder anders nennen, in welcher sich nicht die am Einzelnen verschuldete Schmälerung der wirklich notwendigen Lebensansprüche bitter rächt an der Gesammtheit.

Und diese Lehre ist es, in deren Sinn gerade bei uns in Deutschland die populären und die Fachzeitschriften nicht nachlassen dürfen zu wirken. Sie ist es zunächst, deren innere treibende Kraft einen so bedeutenden Theil des in England Erreichten zu Stande gebracht hat und die in Amerika in so kurzer Zeit Beneidenswerthes leistete. Nicht durch übereifrige bloße Nachahmungen einzelner in die Augen fallender anglo-amerikanischer Erfindungen auf diesem oder jenem Gebiete der Luft-, Wasser- und Bodenhygiene, noch weniger durch die rein polizeiliche Betreibung der Wohnungs- und Nahrungsmittelfragen werden wir es jemals erreichen, daß die Todesziffer unserer Städte von durchschnittlich 28 im Jahre auf jedes Tausend der Bewohner sich auf die weniger als 20 betragende der englischen und amerikanischen Großstädte erniedrige. Wir müssen nicht nur halb, sondern ganz aus dem specifisch deutschen Zustande herauszukommen suchen, den der warmherzige und für die Volksgesundheitspflege aufrichtig begeisterte Johann Peter Frank schon im vorigen Jahrhundert so anschaulich schildert:

„Kaum sieht man,“ sagt er, „daß irgend Jemand sich um das edle Kleinod der allgemeinen Gesundheit in vielen Gegenden bekümmert, bis eine tödtliche Seuche ihr Haupt in die Höhe hebt: dann schreit Alles, was sich nur ein weniges Ansehen geben will, über die Saumseligkeit der Polizei. Diese hingegen giebt sich jetzt, um Hülfe zu schaffen, mehr vergebliche Mühe und verwendet mehr Geld in einer Woche, als von beiden nötig wäre, dem Uebel durch kluge Ordnung vorzubeugen. Es ist beinahe mit den Gesundheitsanstalten alsdann wie mit den Feuerspritzen beschaffen, die man, wenn es im Dorfe brennt, erst flicken und wieder zurecht richten lassen muß; das Feuer erlischt von selbsten, ehe sie ankommen aber das Dorf liegt in Asche.“

Jedoch ist auch in jenen Ländern, die uns in Bezug auf gleichmäßig thätigen Gemeinsinn zum Vorbilde dienen dürfen, die Frage erst zum Theil gelöst, wo die Gemeinde von ihrem Selbstbestimmungsrecht zurücktreten und wo das Eingreifen des Staates angerufen werden muß. Sicher erscheint nur, daß die öffentliche Wohlfahrt von der Fürsorge der einzelnen Gemeinde nicht losgelöst werden kann, so weit sie rein örtliche Bedürfnisse im Auge behalten muß und so weit sie auf’s Engste mit dem Armenwesen und der Armenpflege zusammenhängt.

Wer so weit gehen wollte, alle Zweige des Gesundheitswesens in der Hand des Staates zusammenzufassen, könnte sich auch der Nothwendigkeit nicht entziehen, gleichzeitig das Armenwesen staatlich zu regeln. Wie solche Versuche in anderen Staaten ausgefallen sind, und wie sie bei uns ausfallen müßten, ist hier nicht der Ort zu untersuchen. – Aber auch für die Lösung der örtlichen Schwierigkeiten darf die Leistungsfähigkeit der Gemeinden durch allgemeine Vorschriften nicht lahmgelegt werden. Einmal in die Lage versetzt, eine als zweckmäßig anerkannte Maßregel schnell auszuführen, haben es die Ortsbehörden in ihrer Hand, der schwerfälligen Gesundheitsgesetzgebung des Landes vorauszueilen und – wie es in England und Nordamerika so oft zur Thatsache geworden ist – als Vorkämpfer in dem großen Ringen der Menschheit mit den ihr Vernichtung drohenden Gewalten aufzutreten, ihre Nation auf Bewährtes hinzuweisen und vor Verfehltem zu warnen. Auch der kühnste Experimentalpolitiker, wollte er alle möglichen localen Aufgaben unter allgemeine Gesichtspunkte bringen, müßte verzweifeln – und der Staat riebe sich am Unmöglichen auf, der den Kampf gegen das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden so weit treiben wollte, um die Beseitigung aller Schädlichkeiten nach derselben Formel zu verlangen. Hier glitte uns bald jeder Rechtsboden unter den Füßen fort, und keine Erfahrung wiese uns auf richtige Wege. Denn in ihrer Allgemeinheit ist die Frage, bis zu welchem Grade der Staat befugt sei, im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege in Privatrechte einzugreifen, auch in England noch eine bestrittene; in Deutschland ist sie in ihrer vollen Tragweite noch kaum zum Bewußtsein der gebildeten Kreise gekommen. Von einigen unumgänglichen Aufgaben läßt sich allerdings auch Seitens der eifrigsten Vorkämpfer der Selbstregierung nicht mehr bestreiten, daß ihnen einzig die volle Autorität des Staates gewachsen ist, so für die Aufgaben der Statistik, die Reinhaltung der Flüsse, den Kinder- und Irrenschutz etc.

Am meisten aber geben nach dieser Richtung die Erfahrungen zu denken, welche man ganz neuerdings in England mit den auf eigene Kosten und eigene Verantwortung von den Gemeinden angestellten ärztlichen Gesundheitsbeamten (medical officers of health) gemacht hat. Die heutigen Klagen über die einst diesseits des Canals vielfach bewunderte Einrichtung treten so laut und begründet auf, daß an eine versuchsweise Nachahmung derselben wohl für lauge Zeit nicht zu denken ist.

Schon bei der Anstellung durch die Gemeinde geben oft genug – wie wir mit Befremden hören müssen – nicht die Fähigkeiten des Bewerbers, sondern seine persönlichen und politischen Eigenschaften den Ausschlag. Viele Gemeinden betrachten die Anstellung dieser Beamten, zu welcher der Staat sie nötigt, ohne sich um einen Fähigkeitsnachweis oder sonstige Einzelnheiten zu kümmern, als eine günstige Gelegenheit zu Ersparnissen; sie nehmen häufig nicht nur den Mindestfordernden an, sondern entlassen sogar den schon Angestellten, wenn ein Anderer die Dienstleistung für eine geringere Entschädigung anbietet. Ein solches Unterbietungswesen wuchert natürlich in denjenigen Gemeinden am meisten, welche eine strenge Beaufsichtigung durch einen gewissenhaften „medical officer“ am wenigsten ertragen können. Sie stellen ihn in der Erwartung, ja unter der stillschweigenden Bedingung an, daß er die Gemeinde mit Anträgen und Ausgaben verschone und angesichts nicht gerade nach außen bemerkbarer, wenn auch noch so erheblicher Uebelstände sich blind stelle.

Oft werden mehrere kleine Districte zusammengelegt, um einen gemeinschaftlichen Gesundheitsbeamten zu besolden. Dann muß dieser sich hüten, irgend einem seiner Patrone durch eine Vorsichtsmaßregel oder einen Verbesserungsvorschlag zu nahe zu treten. Er verliert sonst sein Wohlwollen; der District wird ihm entzogen und an eine andere Gruppe angeschlossen. So büßt der durch seine Pflichttreue mißliebig Gewordene an Einnahmequellen ein und muß sich mehr und mehr darauf einlassen, Privatpraxis zu treiben. Letzteres nehmen aber die nicht angestellten freien Aerzte als eine unvorhergesehene Beeinträchtigung ihres Erwerbes auf – sie werden feindlich und suchen nach Gelegenheiten, dem unglücklichen Beamten seine schwierige Aufgabe noch unmöglicher zu machen, z. B. ihn, der für die rechtzeitige Anzeige von Epidemien verantwortlich ist, über die ersten Anfänge derselben im Dunkeln zu lassen etc. So fordert man jetzt jenseits des Canals die Prüfung der anzustellenden Gesundheitsbeamten und ihre Anstellung durch den Staat, Einrichtungen, wie wir sie, wenn auch mit etwas stiefmütterlicher Behandlung der deutlichen Gesundheitsfragen, in Gestalt unserer Kreisphysikate längst haben.

Es ist aber höchst fraglich, ob auch durch die besten Gesundheitsbeamten allein die Schwierigkeiten und Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege wesentlich gemindert werden. Sicherer würde zur Herbeiführung eines Einverständnisses die Mitwirkung aller ärztlichen Kreise herbeigezogen werden, und zwar in dem Sinne, wie 1873 die schweizer Aerztevereine es offen als ihre Hauptaufgabe bezeichneten, ihren Regierungen Vorschläge über zeit- und ortsgemäße Verbesserungen der öffentlichen Gesundheitspflege zu machen und die Ausführung derselben zu überwachen. „Freilich,“ so mußte noch im Jahre 1849 Virchow ausrufen „von

unseren Aerzten werden nicht viele den Beruf in sich fühlen, ihre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_623.jpg&oldid=- (Version vom 8.10.2022)