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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 36.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


’– „Mein Sohn!“ sagte Genoveva mit einem Blick auf den im halben Wege stehen gebliebenen Knaben und wich etwas zurück. Fügen streckte beide Hände nach Siegmund aus und betrachtete ihn, während er ihn festhielt, mit so spähender Liebe, als stünde sein eigener Sohn vor ihm. Wie hatte sich Siegmund verändert! Vergebens forschte Fügen nach einer Spur der seiner Erinnerung so lebhaft eingeprägten kindlichen Züge. Selbst die Augen blickten ihn anders an; noch hatten sie ihr feuriges Blau, aber das Träumerische, welches einst mit so sprühendem Glanze abgewechselt, war einem bewußteren Ausdrucke gewichen. Fein, etwas zurückhaltend erschien der Ausdruck des festen Gesichtes, trotz der offenen Stirn, dem Lächeln, welches eben jetzt um den Mund des Knaben spielte. Der zartgebaute Körper verrieth ein Vorherrschen des Nervensystems, ohne doch von Schwäche zu zeugen. Leichte, wenn auch selten nur rasche Bewegungen, und eine stolze Haltung des Kopfes verliehen der ganzen Erscheinung etwas Ausgezeichnetes.

„Und das wäre also der kleine Sigi,“ sagte Fügen. „Schon jetzt mir beinahe über den Kopf gewachsen; was soll das geben, wenn wir zusammen hausen!“

„Sie bringen uns Ihr Ja!“ rief Genoveva erfreut „Doppelt willkommen mit so guter Botschaft!“

„Wenn Telemach einstimmt – Mentor ist’s zufrieden.“

„Ich hätte Sie überall erkannt,“ sagte Siegmund freundlich, „und weiß noch gut, wie viel Sie mir zu Liebe thaten. Wohin könnte ich lieber gehen, als zu Ihnen, dem Freunde meiner Mutter, dem – Meister,“ setzte er mit leisem Nachdruck hinzu.

Fügen verstand ihn sogleich.

„Du liebst die Musik noch?“ rief er voll Freude.

„Sie ist mein Leben,“ sagte Siegmund mit flüchtigem Seitenblick auf seine Mutter.

Der leicht bewegliche Mann war bezaubert. In raschem Impuls umfaßte er die Schultern des Knaben:

„Wir werden uns verstehen“ sagte er und mit lebhaftem Blick aus Genoveva: „Ich danke Ihnen.“ .

Es entstand eine kurze Pause des Schweigens, in deren Stille leises Klirren aus dem anstoßenden Zimmer hineintönte.

„Maxi rumort, und Jana – wartet,“ sagte Frau von Riedegg lächelnd. „Uebrigens muß unser Reisender hungrig sein. Zu Tische also! Morgen verhandeln wir Ernsthaftes, heute aber wollen wir vor Allem der Freude leben. Sie wieder zu haben. Wir behalten Sie doch einige Zeit?“

„Ich habe acht Tage Urlaub,“ sagte Fügen. „Spätestes am Ersten muß ich wieder in die Pflicht. Acht Tage aber! da gehen viel gute Stunden hinein, vorausgesetzt, daß Sie mich so lange beherbergen wollen.“

Er folgte Genoveva, welche schon die Thür zum Eckzimmer geöffnet hatte, aus welchem heller Lichtschein drang. Da inzwischen Dämmerung eingefallen, waren dort bereits die Läden geschlossen und die Ampel entzündet worden. O, wie es ihn anheimelte, dieses dunkelgetäfelte , wohlvertraute Gemach, über dessen unveränderte Einrichtung sich das weiße Licht ergoß! Sein Blick streifte wie liebkosend darüber hin, während er auf der Schwelle zögerte, vor Freude gebannt, wie das Kind beim ersten Anblick seiner Weihnachtsbescherung.

Elastischen Schrittes eilte ihm eine helle Frauengestalt entgegen – Jana’s sympathisches Gesicht erhob sich zu ihm.

„Endlich,“ rief sie innig, „endlich suchen Sie uns heim!“

Wie das in ihm nachhallte – „Endlich!“ dachte auch er und staunte heimlich, wie er doch so lang hatte fortbleiben mögen. Stilles, freudevolles Staunen beherrschte überhaupt sein Empfinden, während sich Minuten zu Stunden reihten. War ihm doch, als wäre die Zeit stille gestanden, seit er zuletzt an diesem runden Eßtische gesessen, der auch damals, als die ersten herbstkühlen Tage kamen, im Wohnzimmer gerüstet worden. Die Majoliken blickten vom Schranke, und drüben aus dem Eichentische am Ofen schimmerten silberne Flitter. Alles wie sonst – nur der Kreis war vergrößert, Jugend an Stelle der Kindheit getreten, mit ihrem eigenen Leben und Streben daran mahnend, wie manches Jahr vergangen, und daß Jahre auch um die Menschen Ringe ziehen, wie um Bäume.

Das Gespräch floß leicht und heiter dahin, an Vergangenes anknüpfend, zu Gegenwärtigem überspringend. Obgleich es nur Thatsachen berührte und Fügen voll und ganz dem glücklichen Augenblick lebte, ohne an Prüfen und Vergleichen zu denken, fiel ihm doch schon in dieser ersten Stunde aus, welche bestimmten, von einander gesonderten Individualitäten hier mit und durch einander lebten. Dies galt wesentlich für die junge Generation.

In Lois schien der künstlerische Hang, welcher sein frühes Knabenalter bezeichnet, erloschen oder bezwungen; nichts Unmittelbares kam zu Tage, während er mit freier, bescheidener Sicherheit am Gespräch Antheil nahm; Alles erschien überlegt, gewollt. Siegmund, der, im engsten Umkreis aufgewachsen, kaum mehr vom Leben wissen konnte, als er gesehen hatte, setzte Fügen durch manche hingeworfene Aeußerung in Erstaunen; er sprach nicht oft, in jedem seiner Worte lag aber etwas Frisches und Bedeutendes, dessen Kern seinem Alter vorauseilte und dennoch selbst im Munde eines Kindes einfach geklungen hätte. Am schweigsamsten erwies sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_585.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)