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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

geworden. Ihr Verfasser hat sich auf einen Punkt der Betrachtung zu schwingen vermocht, welcher oberhalb aller nationalen Beschränktheit liegt.

Es giebt auf der Erde Stellen, wo die Gebiete großer Ströme knapp an einander stoßen. Dort wehen die Winde heftiger, entsprießen die Pflanzen üppiger dem Boden. Auf einer solchen Stelle muß man sich Iwan Turgenjew denken. In ihm vereinigen sich französisches Formgefühl, deutscher Tiefsinn und russische Unmittelbarkeit. Die russische Volksseele hat Niemand so gründlich erkannt wie er; sie seufzte hülflos in Puschkin’s Dichtungen; sie verspottete sich selbst in den Schöpfungen Gogol’s, aber in den Romanen und Novellen Turgenjew’s enthüllte sie, was sie als guten und schlechten Inhalt birgt. Ihr schlechter Inhalt ist die Corruption, welche im Staate den heutigen russischen Beamten, in der Gesellschaft den Nihilisten erzeugt hat. Der Despotismus mit seinen niederträchtigen Werkzeugen hat diesen schlechten Inhalt gehegt und gepflegt, und er ist es, den Turgenjew brandmarkte, indem er die Geschichte des Nihilismus mit der Tiefe eines Dichters und der Erkenntniß eines Weisen schrieb. Wann hätte ein Czar sich einer gleichen That zu rühmen gehabt?

Hiermit mögen die Betrachtungen über „Nihilismus und russische Dichtung“ ihren Abschluß finden.




Spandau.
Ein Städtebild von Dr. Otto Kuntzemüller.

Von der Stadt Spandau bilden sich Leute, welche den Ort nicht aus eigener Anschauung kennen, vielfach gar wunderliche Vorstellungen. Aus der Geschichte wissen sie, daß in der Citadelle Spandaus mancher Staatsverbrecher büßen mußte; auch von dem Zuchthause zu Spandau haben sie gehört, ferner von Hinrichtungen, die in der Stadt vorgenommen wurden, und endlich gar noch von bösen Fiebern, welche dort jeden bedrohen. Ein Zug tiefsten Bedauerns erscheint daher auf den Gesichtern dieser Leute, wenn man sich ihnen als „Spandauer“ vorstellt, als ob man dort seine Tage bei Wasser und Brod hinter kleinen Gitterfenstern zubringen müßte. Besuchen solche Leute aber einmal die Stadt, so sagen sie einem in der Regel: „Bei euch ist es wirklich gar nicht so schrecklich, wie wir es uns vorgestellt haben.“ Und in der That: Spandau ist besser als sein Ruf. Es ist nicht die schlechteste von den Städten der Mark, und von allen den ihr angedichteten Schrecknissen existirt in Wahrheit kein einziges.

Von den Höhen der Umgegend aus gesehen, gewährt Spandau, wie es sich in der Niederung am Zusammenflusse von Spree und Havel ausbreitet, einen überaus freundlichen Anblick. Die Havel läßt nur an einzelnen Stellen ihre Fluthen durch die zum größeren Theile den Fluß verdeckenden Gebäude hindurchschimmern. Die Spree aber wälzt ihre dunklen Wogen am Fuße des Spandauer Berges, des sogenannten Bockes, vorbei in mächtiger Krümmung der Havel zu; sie bespült lachende Wiesen. Und nicht blos die Spree, auch die beiden Eisenbahnen, die Hamburger und die Lehrter Bahn, welche in divergirenden Linien vom Bocke aus der Stadt zulaufen, tragen mit ihren häufigen Zügen wesentlich zur Belebung des Vordergrundes bei. Dunkle Föhrenwälder, hin und wieder durchsetzt von Laubholz, heben sich mit welligen Formen vom Horizonte ab und geben dem ganzen Bilde einen freundlichen Rahmen.

Die Stadt Spandau selbst mit dem Alles überragenden Thurm von St. Nicolai ist zum größten Theile auf dem rechten Ufer der Havel gelegen. Hier breitet sich die Altstadt aus, welche erst jetzt ihrer beengenden Mauern und Wälle entkleidet wird, umgeben von ausgedehnten Vorstädten: der Potsdamer Vorstadt, Klosterfelde und der Oranienburger Vorstadt. Auf dem linken Havelufer liegt südlich der Spree: der Stresow mit dem Hamburger Bahnhofe, den beiden Casernen des vierten Garde-Regiments, der königlichen Geschützgießerei und der königlichen Artilleriewerkstatt, während sich nördlich der Spree die Citadelle mit dem jetzt weltbekannten Julius-Thurm (vergl. „Gartenlaube“, 1880, Nr. 47), die königliche Gewehrfabrik und die königliche Pulverfabrik dem Blicke darbietet. Eine fünfte fiscalische Fabrik, das königliche Feuerwerkslaboratorium, befindet sich auf dem Eiswerder, einer großen schönen baumreichen Insel in der seeartigen Havelerweiterung nördlich der Citadelle. Trotz ihrer vielen rauchenden Essen geben diese großartigen Fabrikanlagen der Stadt dennoch kein schwarzes düsteres Aussehen.

Die Hauptstraßen der Altstadt sind breit und sauber, eingefaßt von zum Theil recht stattlichen Häusern, unter denen die sogenannte „Schloßcaserne“, das ehemalige Zuchthaus – heute existirt in den Straßen Spandaus kein Zuchthaus mehr – besonders hervorragt.

Von den übrigen Gebäuden sind zu nennen: das Rathhaus am Markte, das Gymnasium, das in keiner Weise den heutigen Anforderungen genügt – es ist in Bezug auf seine bauliche Einrichtung vielleicht das jammervollste im ganzen preußischen Staate – die Töchterschule, die katholische Kirche, das Garnisonlazareth und endlich die evangelische Kirche St. Nicolai, welche berufen war, in der Geschichte des brandenburgisch-preußischen Staates eine hervorragende Rolle zu spielen.

Die Oranienburger Vorstadt kann schon jetzt als zur inneren Stadt gehörig betrachtet werden, da sie von der bedeutend erweiterten Stadtbefestigung, der neuen Enceinte, gänzlich umschlossen wird, und da der Wall, welcher sie bisher von der Altstadt trennte, zum Theil schon gefallen, bald gänzlich verschwinden soll; mit ihm wird hoffentlich auch der letzte Rest der alten Stadtmauer fallen. Sind aber Wall und Mauer erst geschwunden, dann bildet die Oranienburger Vorstadt den Stadttheil, in welchem die Zukunft Spandaus liegt; denn das Terrain, welches sie einnimmt, ist ungefähr sechsmal so groß, wie die ganze Altstadt, bietet also reichlich Gelegenheit zu allen möglichen Anlagen.

Wie die Oranienburger Vorstadt, so ist auch der durch stattliche Gebäude ausgezeichnete Stresow, nachdem die alte Stadtmauer längs der Havel von der Charlottenburger Brücke bis zum Garnisonlazareth gefallen, als zur innern Stadt gehörig anzusehen.

Zu den besonderen Reizen Spandaus gehört die prächtige Umgegend: der Tegeler-See mit seinen waldreichen, malerisch schönen Ufern, der Spandauer Bock, durch Natur und Kunst eines der anmuthigsten Vergnügungslocale in der ganzen Umgebung Berlins, der Grunewald mit seinem Wildreichthum und vor allem die lieblichen Havelufer zwischen Spandau und Potsdam.

Spandau ist eine der ältesten Städte der Mark Brandenburg. Sie verdankt ihre Entstehung der Burg „Spandow“, welche Markgraf Albrecht der Bär um’s Jahr 1160 gründete, um das Havelland, in dessen vollen Besitz er nach der Eroberung Brandenburgs im Jahre 1157 gekommen war, gegen Angriffe der noch nicht unterworfenen Wenden des Barnim und Teltow zu sichern. Diese Burg lag auf dem Terrain, welches heute die Citadelle der Festung Spandau einnimmt, und ihren Namen erhielt sie ohne Zweifel von einer Ansiedlung wendischer Fischer, neben welcher sie erbaut wurde. Die Reste dieser vorgermanischen Ansiedler am Zusammenflusse von Spree und Havel finden wir vermuthlich in den Wenden auf dem Kietze, welche bis zum Jahre 1560 neben der Burg oder dem Schlosse „Spandow“ wohnten und eine schloßunterthänige Dorfgemeinde bildeten.

Nach Gründung der Burg, welche auf einer Insel in der Havel gelegen war, siedelten sich auf dem rechten Havelufer der Burg gegenüber deutsche Kriegsknechte und Handwerker an, und es entstand so allmählich der Markflecken Spandow, dessen Bewohnern die Markgrafen Johann der Erste und Otto der Dritte 1232 brandenburgisches Stadtrecht ertheilten. Seit 1231 giebt es also eine deutsche Stadt „Spandow“, oder wie sie heute genannt wird, „Spandau“. In den Jahren 1319 bis 1386 wurde sie durch eine Mauer befestigt, die auf der Westseite und zum Theil auf der Ostseite noch erhalten ist. Von den sechs Thürmen, welche dieselbe ehemals schmückten, steht nur noch der des alten Stresowthores, der als „der Rundthurm am Charlottenburgerthore zu Spandau“ in jüngster Zeit viel von sich reden gemacht hat; sogar die preußische Landesvertretung hat sich mit ihm beschäftigt. Einige sanguinische, um nicht zu sagen fanatische, Verehrer mittelalterlicher Befestigungsbauten wollen denselben durchaus erhalten sehen und brachten es zuwege, seinen bereits beschlossenen Abbruch noch in letzter Stunde zu verhindern, indem sie vorgaben, der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 582. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_582.jpg&oldid=- (Version vom 3.9.2022)