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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

gegenüber das Recht der Persönlichkeit zu wahren. Und zugleich war es eine Bewegung, die von der Jugend ausging; denn die Alten, in dem Rußland Katharina’s geboren und erzogen, hatten frühzeitig verzichten gelernt, wenn sie überhaupt jemals Etwas zu wünschen sich erdreistet hatten.

Karamsin, der Historiker, Derschawin und Schukowski, die Poeten der Vor-Puschkin’schen Generation, sprachen niemals von Freiheit, und Schukowski, der Hofpoet, wurde tatsächlich geistesirr, als er, von Deutschland heimkehrend, die daselbst empfangenen Eindrücke in sich zu verarbeiten suchte. Puschkin dagegen beruft sich nicht ohne Stolz auf den Dichter Lomonossow, welcher dem Grafen Schuwalow, als dieser sich mit ihm einen Scherz erlaubte, rund heraus erklärt hatte:

„Excellenz, ich will nicht blos keines irdischen Machthabers, sondern selbst nicht meines Heergottes Narr sein.“

Da ist der Ursprung des Kampfes. Und Puschkin selbst sagt dem Czar in’s Gesicht, er wolle lieber das Schreiben unterlassen, als die Censur dulden. Da ist die Resignation.

Und aussichtslos war bis auf Weiteres allerdings jede Auflehnung. Was konnte der Einzelne gegen die Macht des Czars aufbieten, hinter dem ein Wald von „todten Seelen“ in stummem Gehorsam stand? Mußte aber darum ein Puschkin nothwendig zum Sclaven werden? Nein, der Dichter ist allemal frei, zum mindesten in dem Reiche, das er sich selbst mit seiner Phantasie aufrichtet: die Gestalten, die er schafft sind ihm mehr unterthan, als die Leibeigenen dem Czar, und er darf zum mächtigsten Heerscher sagen:

„Mußt mir meine Hütte doch lassen stehn, die du nicht gebaut.“

So blieb Puschkin trotzalledem der Stärkere von den Beiden; die Lücken, welche Nicolaus mit dem Rothstift in seine Dichtungen riß, haben nur gezeigt, wo der Kaiser schwächer war als der Dichter. Und der Dichter hinwiederum bewies an seinen Gestalten, um wieviel besser er Rußland kannte als der Czar. Denn diese Gestalten sind lebendig, weil ihre Urbilder es ebenfalls waren. Puschkin ging dem nationalen Bedürfnisse nach, indem er die Sage und Geschichte seines Volkes mit seiner Phantasie durchdrang, von Boris Godunow, Pugatschew, dem Czar Saltan und von Pultawa erzählte; er achtete den Geschmack seiner russischen Zeitgenossen, indem er ihnen in der Novelle die „Capitainsbraut“ und in den Gedichten „das Räuberbrüderpaar“, „Graf Rulin“, „der Gefangene im Kaukasus“ Früchte seines Genius darbot, welche ihnen wie Leckerbissen munden mußten. Doch auch das Elend der Zeit fand seine Verkörperung in dem bereits erwähnten „Eugen Onägin“, diesem Muster aller problematischen Existenzen, diesem echten Repräsentanten des resignirten Nihilismus, der das Leben erschöpft, ohne seinen Werth zu erkennen, der den Tod sich wünscht, weil er neugierig ist, ob es auch in einer anderen Welt „so schal, ekel und unersprießlich“ ist.

Wie müßig ist es doch, darüber zu grübeln, welchen Antheil Lord Byrons Einfluß an diesem „Eugen Onägin“ hat, ob er ein echter Russe oder eine Composistion von westlichen und heimischen Substanzen sei! Leser von Literaturkenntniß denken, wenn sie diesen Onägin kennen lernen, gleichsam mechanisch an Don Juan, an Faust, an Hamlet und an Manfred. Aber er ist von alledem etwas, außerdem jedoch ein vornehmer Russe aus der nikolaistschen Zeit. Das aber bedeutet, daß er ein unnützer, ein überflüssiger Mensch ist, der lebt, weil er geboren wurde, lernt, weil er neugierig ist, den Frauen nachstellt, weil dies der Czar erlaubt, spielt, weil er sich die Langeweile vertreiben will, und im Duell einen Freund tödtet, obgleich ihm die Empfindlichkeit des in seiner Ehre verletzten Freundes eine sehr problematische Sache zu sein scheint. „Er lebt zu rasch und fühlt zu früh“, dieses Motto hat Puschkin seinem „Eugen Onägin“ mitgegeben. Ja wohl, Onägin ist längst ausgelebt, da noch in seinem Leibe die Lebenskraft eines Riesen steckt; die Frage ist nur, warum er sich so früh ausgelebt hat. Warum? Hätte ihm der Staat erlaubt, seinem Leben einen ernsten Inhalt zu geben, es nach seiner eigenen Weise zu gestalten und mit einem dankenswerthen öffentlichen Wirken auszufüllen, so wäre ihm sein Lebenstag langsamer dahingeflossen und fruchtbarer. Aber der Staat hatte eine offene Pforte nur für diejenigen, die an sclavischem Gehorsam Gefallen fanden, und dazu war „Eugen Onägin“ nicht gemacht. Er zählte zu der Masse von Leuten, welche sich für zu gut hielten, dem Staate bedingungslos ihre Persönlichkeit dahinzugeben, und dann zu schlecht wurden, um ihrer Persönlichkeit ein freies Stück Dasein zu erobern. Was er um sich her mit seinen Augen schaute, war Elend, Knechtschaft, Corruption; er mochte zuerst glauben, es werde besser werden, vielleicht morgen, übermorgen, in einem Jahre. Und er wartete, die Zeit bei dem Knalle von Champagnerpfropsen, in den Armen lüsterner Weiber sich verkürzend, philosophirend, dichtend, am Kartentische sich in Leidenschaft verzehrend. Aber es ward nicht besser.

„Sagt mir, ihr friedlichen Gewalten,
Wo meine gold’ne Jugend blieb!
Was wird der nächste Tag mir bringen?
Mein Auge, ach! kann nicht durchdringen,
Was sich verhüllt im Graun der Nacht.“

Er konnte sogar tugendhaft sein, dieser Eugen Onägin; er konnte die schöne Tatjana, die sich ihm an den Hals warf, moralisirend zurückweisen und sich des poetischen Freundes Wladimir Lansky erfreuen, der ein echter Schwärmer war.

„Wladimir Lansky, von Gemüthe
Göttinger Bursch’, der in der Blüthe
Der Hoffnung und des Lebens stehst,
Verehrer Kant’s ist und Poet.
Aus Deutschlands Nebeln kam er wieder
Mit Früchten der Gelehrsamkeit,
Freiheitsideen unsrer Zeit.“

Aber es änderte sich nichts um ihn her, und es dünkte ihm zuletzt, daß es sehr gleichgültig sei, ob man gut oder schlecht ist, ein honettes Leben führt oder sein Vermögen verlottert.

Und so wird Onägin, nach Puschkin’s eigenen Worten, zum „Product der Gesellschaft und der Sitten seiner Zeit, zerfressen von der Moralkrankheit, an der sein Geschlecht dahinsiecht“. Der Dichter selbst aber entläßt ihn mit einem traurigen Bekenntniß, das er zum Schlusse dem Leser macht:

„Das Leben nahm mir viel, ja viel!
Heil dem, der früh sich abgewendet
Vom Lebensfest und, klug belehrt,
Das Glas nicht bis zum Grunde leert,
Seinen Roman nicht ganz beendet,
Den rechten Augenblick ersehn
Zum Schluß, wie ich mit Freund Eugen.“

Der schauerliche Roman des Nihilismus war noch nicht über die erster Capitel hinaus gediehen, als Puschkiu seinem Volke diesen „Eugen Onägin“ vorführte. Die Blasirtheit ist nicht gefährlich, die Resignation nicht bedrohlich. Aber es werden sich weitere Capitel anfügen und „Eugen Onägin“ wird aufhören, sich mit Wein, Würfeln und Weibern zu bescheiden; er wird den Staat fragen: Was hast du aus mir gemacht? Und die Antwort wird ein Faustschlag sein, der sein Gesicht entstellt. Dann wird Eugen Onägin’s Seele sich mit Wut und Tücke erfüllen; er wird zuerst insgeheim knirschen und auf Rache sinnen, wenn aber die Zeit gekommen ist, wie ein Rasender an dem Staate rütteln. So wird der resignirte Nihilist sich in einen nihilistischen Mörder verwandeln, verhärtet in seinem Gemüthe durch das Gefühl einer fünfzig Jahre lang empfundenen Schmach. Und dann wird der Czar umsonst Censor sein wollen; denn „Eugen Onägin“ wird Solowiew, Scheliabow, Kibaltschitsch heißen, und neben ihm wird nicht mehr die sanfte, schöne Tatjana schreiten, sondern ein Weib von ganz anderer Art, eine Wjera Sassulitsch, eine Sophie Perowski.

Nicht künstlich hergestellt, sondern geschichtlich geworden ist dieser Zusammenhang; nicht ohne Bedacht ist Alexander Sergejewitsch Puschkin als der Vorläufer des Nihilismus bezeichnet worden. Käme es darauf an, die Geschichte des Nihilismus in fortlaufender Darstellung von Ursache und Folge zu erzählen, so müßte es ein Kleines sein, bei jedem hervorragenden Dichter nach Puschkin einen „Eugen Onägin“ nachzuweisen; freilich würde man ihn fortgeschritten finden in dem Willen und der Fähigkeit, dem Staate seine Sünden heimzuzahlen; denn das ist das Vorrecht der Dichtung, daß sie die Wirklichkeit begleitet, bisweilen wie ein Commentar, öfter aber noch wie ein Spiegel.

Hätte Czar Nicolaus, anstatt sich als Censor über den Dichter zu setzen, in den Spiegel geschaut, den ihm Puschkin vorhielt, so wäre seinem Sohne das furchtbare Schicksal, das ihn am Katharina-Canal ereilte, vielleicht erspart geblieben. Mit dem „Eugen Onägin“ von damals hätte sich eine Versöhnung finden lassen; ob sie mit

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