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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Erinnern füllen, wie Dämmerzeit oder Mondlicht, und dann, wenn – die Violinen einfallen, soll es wie Morgenröthe aufblitzen, wie Lichtstrahlen voll Klarheit, die Alles frei macht. Bis das begriffen ist, möchte man vor Schmerz und Aengsten aus der Haut fahren. Und nun gar erst draußen, irgendwo – was wird da aus unserem Stil, wenn’s ein individueller ist!“

„Wie mag Ihnen zu Muthe gewesen sein, Herr Fügen, als Sie zum ersten Male selbst eine Melodie erfanden!“ sagte Jana schüchtern. „Wissen Sie noch, wann das gewesen ist?“

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

„Weiß nicht! Vielleicht, als ich drei Käse hoch war, wie unser Sigi. Der componirt ja auch schon. Neulich knirschte die Thür, ja wirklich sie miaute, daß ich mir die Ohren zuhielt, er aber hatte eine Melodie herausgewittert und sang ihr nach, bis mir auf einmal selbst ein Licht darüber aufging, daß in dem Geknirsch ein Ton steckt. So fangen wir an, vielleicht mit der halbvergessenen Melodie eines Ammenliedchens, die man sucht und nun anders herausbringt.“

Er sann heiter in sich hinein

„Ich hätte wohl Lust, einmal wieder ein paar Lieder zu componiren, gerade jetzt,“ sagte er, nach Genoveva blickend. „Das Allegretto steht mir noch nicht fertig da; bis das reif wird, ließen sich etliche Weisen einfangen, die mir lange schon durch den Kopf summen. Aber wo den Text hernehmen? Unter all dem poetischen Kram findet sich gar selten Sangbares. Stecken hier in der Burg vielleicht ein paar alte Gedichtbände oder dergleichen, worin man blättern könnte?“

„Ich fürchte, nein,“ sagte Genoveva; „doch wollen wir morgen nachsehen“

„O gnädige Frau, möchten Sie nicht –“ rief Jana hastig, brach aber wie mit Blut übergossen mitten im Satze ab.

„Nun?“ fragte Fügen gespannt, und blickte von Einer zur Andern

„Ich weiß nicht,“ stammelte das Mädchen mit befangenem Blick aus ihre Herrin.

„Weshalb sprichst Du nicht frei heraus?“ fragte Genoveva gelassen „Es braucht kein Geheimniß für unseren Freund zu sein, daß ich zuweilen eine Strophe aufschreibe – aufgeschrieben habe. Jetzt kommen mir keine Lieder mehr. Wollen Sie das Heft durchblättern, welches Jana meint, so stelle ich es Ihnen frei. Nur dürfen Sie keinen Anspruch auf kunstreiche Formen oder geistvollen Inhalt mitbringen. Es sind Tagebuchblätter, ganz persönlicher Art, deshalb kaum von Werth.“

„Also lyrisch!“ sagte er mit leuchtendem Blicke. „Nun, lyrisch und ganz persönlich sind auch Lerche und Nachtigall. Wollen Sie mir so hohes Vertrauen gönnen, wie dankbar werde ich sein!“

Genoveva sah ihn mit den dunklen Augen seltsam an.

„Vertrauen?“ wiederholte sie mit leichter Bewegung der Schultern „Vor Zeiten hätte ich Ihnen so wenig wie sonst Einem preisgegeben, was nur mich angeht. Heute geht Vergangenes mich nichts mehr an. Was vorüber ist, gleicht abgefallenem Laub – wer sollte sich’s noch zu Herzen nehmen? Sentimental sein ist wahrlich nicht der Mühe werth. Ich glaube, die Lieder, von denen wir sprechen, sind ziemlich sentimental; doch sagen sie Ihnen nichts Neues; daß ich einst besessen und verloren habe, wissen Sie ja.“

Fügen forschte, während sie sprach, umsonst mit einem dringlichen Blick in ihren unbewegten Zügen; er hätte in diesem Augenblick ein Stück seines Lebens dahingegeben, um zu wissen, ob, was sie sagte, ihre wahre Meinung sei oder nur schmerzliche Ironie. Das Peinliche, was ihre ersten Aeußerungen für ihn gehabt, löschte an ihren letzten Worten wieder aus.

„Anderes sagt Keinem das Leben,“ rief er lebhaft. „Wer überhaupt besessen hat, ist glücklich zu preisen, was auch folgen mag; denn er hat auskosten dürfen, was lebenswerth gewesen, und kann mit Wünschen abschließen. Die leer ausgingen, können das nie.“

„Abschließen?“

Eine jähe Blutwelle stieg ihr bis in die Schläfen.

„Wie trüge sich das Leben ohne Wunsch?“

„Und was ist der Ihre?“ rief er hastig, die Frage bereuend, sobald sie ihm entschlüpft war.

„Reichthum,“ sagte Genoveva mit plötzlicher Kälte, indem sie aufstand, langsam über das Zimmer schritt und durch einen Druck auf einen Knopf im Getäfel das Gefach eines Wandschränkchens aufspringen ließ.

Fügen starrte ihr nach, ohne ein Wort hervorzubringen. Ihm war, als sei er aus farbiger Abendbeleuchtung unerwartet in’s Dunkle geraten wo man umhertappt und sich nicht zurecht finden kann. Wozu wünschte diese Frau Reichtümer, sie, für welche die selbsterwählte stolze Einsamkeit so gemäß schien – was sollten ihr Schätze? Sich ihr dunkles, vornehmes Bild in goldgleißendem Rahmen zu denken, mißfiel ihm. Doch behielt er jetzt nicht Zeit zum Grübeln. Genoveva hatte dem Gefach eine Mappe entnommen, und drückte nun die Feder wieder ein.

„Hier,“ sagte sie, und reichte ihm die dunkle Mappe. Ihr schönes Gesicht war marmorblaß. „Sehen Sie nach, ob sich unter den halbvergilbten Blättern Sangbares findet! Sie lagen lange vergessen.“

Sie blickte sinnend auf Jana.

„Wie kamst Du doch darauf?“

„Haben Sie vergessen, gnädige Frau, daß Sie mich damals, als wir für lange Zeit fortgingen, Alles, was im Schranke liegt, hier herauftragen ließen, und daß dann ein Blättchen aus der Mappe glitt, das Sie mir zu lesen erlaubten ehe Sie abschlossen? Ich hab’s nie vergessen können; es war ein Lied vom Scheiden. Und ich weiß es heut noch auswendig.“

Sie zögerte einen Moment – dann, als die Beiden fortfuhren zu schweigen sprach sie in ebenso leisem Tone wie zuvor:

„Leb’ wohl, leb’ wohl! Kurz ist das Wort,
Der Inhalt aber tief –
Lang’ tönt es noch im Herzen fort,
Nachdem der Mund es rief

Auf Wiedersehn! Melodisch Wort
Voll Trug und Süßigkeit,
Du ruhst als tief verhüllter Hort
Im Schooß der Ewigkeit.“

Genoveva, die aufrecht stehen geblieben war, sah unverwandt auf das junge Mädchen, während es die Verse sprach. Langsam wendete sie die sinnenden Augen von Jana auf Fügen hinüber; ein schwer zu deutendes Lächeln flog um ihre Lippen.

„Ewigkeit!“ wiederholte sie nach kurzer Pause in seltsamem Tone. „Um zu erfahren, wie sanft es ist, die Todten zu beweinen, muß man erst um Lebende geweint haben und um Geschicke. Irre ich nicht, Jana, so hast Du damals über dieses Gedicht viele Thronen vergossen. Heute weinst auch Du nicht mehr.“

Der Behauptung zum Trotz stürzten unaufhaltsam Thränen über des Mädchens zartes Gesicht.

Genoveva lächelte kühl.

„Sie werden das eben Citirte zwischen dem übrigen finden,“ sagte sie zu Fügen; „vielleicht componiren Sie es. Nun aber, gute Nacht!“




11.

Längst waren auf der Moosburg alle übrigen Lichter erloschen als Richard Fügen noch bei seiner Lampe saß. Die ihm unbegreifliche Aufregung, mit der er sein Schlafzimmer betreten, wollte nicht weichen, verscheuchte jeden Gedanken von Schlaf und Ruhe. Er kam sich wie im Fieber vor, wo man sieht, was nicht da ist, während alles Feste, Vorhandene in’s Schwanken gerät. Sein Zimmer schien ihm behext; aus jedem Winkel trat dieselbe Gestalt auf ihn zu, sahen ihn dieselben magnetischen Augen an. Er wollte sich zwingen, nicht an Genoveva zu denken – umsonst, ihre ernst leidenschaftlichen Züge standen vor ihm, wie in die Luft gezeichnet; in seinem Ohre klangen immer dieselben Worte, von melodischer, den tiefsten Nerv berührender Stimme gesprochen. Wo war denn Jana? Er rief sie, die sonst so leicht und rasch vor sein inneres Auge trat, aber nur wie durch Nebel, undeutlich sah er das liebe Gesicht, die unschuldigen Augen. Genoveva war da, sie allein – aber was ging ihn diese an? „Alles!“ rief jede Fiber in ihm, „Alles!“

Jeder erlebt den Augenblick, wo er plötzlich erfährt, wie es in seinem Herzen aussieht. Seltsam, daß gerade dieses Herz, welches sich so oft mit dem Kopfe berät, das der Kopf so genau zu kennen meint, unerwartet seine eigenen, fremden Wege geht, gefährliche Wege mitunter, wie Nachtwandler thun. Lange, lange kann es sich auf schwindelnder Höhe sicher vorwärts bewegen, so gut

verhüllt, daß es ungesehen bleibt, so träumerisch, daß es nichts

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