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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

linkes Centrum fast die Hälfte ihrer Mitglieder. Dagegen ward der früheren Conflicts-Mehrheit die nachträgliche Genugthuung, daß die siegreich aus dem Kampfe heimkehrende Regierung sofort Indemnität bei dem Abgeordnetenhause nachsuchte und so dessen verfassungsmäßige Rechte anerkannte.

Am 15. October wurde das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes und am 12. November noch ein gemeinschaftlicher Wahlaufruf der Fortschrittspartei und des linken Centrums veröffentlicht. Allein schon in den nächsten Tagen veranlaßten heftige Debatten in den Fractionssitzungen den Austritt verschiedener Mitglieder – darunter namentlich Lasker, Twesten und von Forckenbeck – und die Bildung der „nationalliberalen“ Partei, die bald einen entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung und Entwickelung unserer inneren Verhältnisse gewann und geraume Zeit behielt. Grund der Meinungsverschiedenheit war das größere oder geringere Vertrauen zu dem leitenden Staatsmanne. Die Wahlen am 12. Februar 1867 ergaben in den alten preußischen Provinzen einen glänzenden Sieg der conservativen Regierungspartei, während in den neuen die Nationalliberalen, welche neunundsiebenzig Sitze errangen, überwogen. Zu Folge des allgemeinen Stimmrechts erschienen auch die Socialdemokraten zum ersten Mal geschlossen auf dem Plane und gaben in Elberfeld bei der engeren Wahl den Ausschlag für Bismarck gegen Forckenbeck. Nordhausen wählte Eugen Richter und eröffnete so dem Achtundzwanzigjährigen die parlamentarische Laufbahn.

Drei Jahre vorher war der zum Bürgermeister von Neuwied gewählte Regierungsassessor wegen notorischer Freisinnigkeit nicht bestätigt worden, hatte den Staatsdienst aufgegeben und in Berlin als politischer und volkswirthschaftlicher Schriftsteller sich niedergelassen Er zählt zu den hervorragendsten Parlamentariern unserer Zeit und führt seit des großen Waldeck und des unvergeßlichen Hoverbeck Tode die Partei. Staunenswerth, wie seine Arbeitslust, ist die Fülle des Materials, das er aus allen Gebieten, insbesondere dem finanziellen und militärischem bis in das kleinste Detail beherrscht und stets im rechten Augenblick zu verwenden weiß. Auch als Redner steht er jetzt auf der Höhe und wirkt durch die Form nicht weniger, wie durch die Sache, während eine gewisse Rücksichtslosigkeit, die zuweilen verletzte, jetzt der Ruhe des reiferen Alters zu weichen beginnt. Dem Vielbewunderten und Vielgehaßten hören die Gegner fast noch aufmerksamer zu, als die Freunde.

Die nächsten Wahlen fielen für die Fortschrittspartei etwas günstiger aus. Berlin blieb ihr treu, ließ für den Reichstag Lasker fallen und beseitigte im Landtage diejenigen fünf seiner neun Abgeordneten, welche nationalliberal geworden waren. In drei parlamentarischen Körperschaften, im Reichstage, im Zollparlament und im preußischen Abgeordnetenhause, hat die Partei während der nächsten Jahre auf das Eifrigste an der Gesetzgebung mitgearbeitet, deren Fortschritte in wirtschaftlichen Fragen, dank dem einsichtsvollen Minister Delbrück und dem einmüthigen Zusammenhalten aller Liberalen, verhältnismäßig bedeutende und bahnbrechende waren. Auch wo es sich um politische Freiheit handelte, blieb die Mehrheit der nationalliberalen Partei den alten Grundsätzen noch treu, während die Mitglieder aus Hannover und Hessen zumeist der Regierung zum Siege verhalfen. Am 19. Juli 1870 bewilligte der Reichstag in außerordentlicher Sitzung einstimmig die zur Kriegführung gegen Frankreich verlangten Geldmittel, und am 24. November ward er zum letzten Mal eröffnet. Niemand grämte sich darob.

Alle Liberalen hatten die norddeutsche Bundesverfassung von vornherein nur als einen mangelhaften Anfang, einen traurigen Notbehelf betrachtet und selbst die Nationalliberalen stets erklärt, bei erster Gelegenheit, namentlich beim Hinzutritt der süddeutschen Staaten, die Mängel beseitigen zu wollen. Alle Liberalen hofften von Beginn des Krieges an auf ein einiges deutsches Reich und eine freiheitliche Reichsverfassung. Das Werk von Versailles sollte sie bitter enttäuschen – particularistisch verschüchtert freiheitlich nicht verbessert war es im Wesentlichen die norddeutsche Bundesverfassung geblieben unter der nun das Reich geeinigt ward. In dem Wahlaufrufe vom 21. Januar 1871 erklärte die deutsche Fortschrittspartei, ihr an der Spitze des Programms vom 9. Juni 1861 ausgesprochenes und in der Verfassung des deutschen Reiches nur teilweise erreichtes Ziel sei „nach wie vor die Freiheit im geeinigten Deutschland“.

Im ersten deutschen Reichstage erschien sie sechsundvierzig Mann stark, darunter sechs Baiern und fünf Schleswigholsteiner. Diese, in den früheren Parlamenten als „Landespartei“ durch Augustenburgische Tendenzen vereinigt, traten jetzt in die Fortschrittspartei ein, voran Albert Hänel, Prozessor in Kiel, der feingebildete Stiefsohn Heinrich Laube’s. Seine Bedeutung sicherte ihm schnell eine maßgebende Stellung in der Partei wie im Parlamente; er ist Vicepräsident des deutschen Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses gewesen, als die Liberalen über diesen Platz verfügten. Eine Autorität auf dem Gebiete des Staatsrechtes, tiefsittlichen Ernstes und bei aller Entschiedenheit der Gesinnung voll Ruhe und Mäßigung, wirkt er vor Allem durch seine edle Erscheinung und das überzeugende Pathos seiner formvollendeten Beredsamkeit; er genießt besonderer vertrauensvoller Beliebtheit bei den Mittelparteien.

Am 3. März, dem Tage der Friedensverkündigung, inmitten des allgemeinen Festjubels und Freudenrausches, wurde gewählt. Die beiden liberalen Parteien bildeten zusammen noch nicht die Mehrheit, diese war vielmehr wechselnd und von Fall zu Fall den verschiedensten Umständen und besonderen Verhältnissen, nicht selten bloßer Zufälligkeiten unterworfen, wie sie es bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Unter Führung des früheren hannöver’schen Staatsministers Windthorst hatte sich zunächst im preußischen Abgeordnetenhause eine besondere Partei für die Interessen der katholischen Kirche gebildet, welche nun auch im Reichstage auftrat und durch ihre Mitgliederzahl wie durch die Geschicklichkeit ihrer Leitung immer mehr in den Vordergrund rückte. Lange Zeit in erbittertem Kampfe mit der Regierung, bildete sie die schärfste Opposition und verhielt sich in allen politischen Fragen entschieden liberal, seit aber der kirchliche Streit friedlicher Beilegung immer näher gerückt, hat sich das „Centrum“ zu einer gewissen Regierungsfreundlichkeit bekehrt und nicht selten mit den Conservativen gegen die Liberalen vereinigt. Die Fortschrittspartei ist überall für die berechtigten Ansprüche des Staates gegenüber der Kirche voll und ganz eingetreten und hat den Cultusminister Falk, welcher die damalige Richtung der Staatsregierung vertrat, mit aller Kraft unterstützt. Führer der Partei im „Culturkampfe“ ist Virchow, dem auch dieses jetzt allgemein gebräuchliche Wort entstammt. Der berühmte Professor und Gelehrte, dessen Name in der ganzen gebildeten Welt bekannt und gefeiert, gehört zu den Begründern der Fortschrittspartei und zu ihren stolzesten Zierden; ein Bahnbrecher auch in der Wissenschaft, ist er für die geistige und sittliche Befreiung des Volkes nicht minder thätig, als für die politische.

Der Reichstag eröffnete am 5. Februar 1874 seine zweite Legislaturperiode unter scheinbar günstigeren Anzeichen für die Liberalen, welche zusammen fünf Stimmen über die absolute Mehrheit hatten. Er begann mit der Berathung des Reichsmilitärgesetzes, dessen erster Paragraph den brennenden Punkt langer Zwistigkeiten zwischen Regierung und Volksvertretung bezeichnete. Wiederum ward dauernde Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres durch das Gesetz verlangt, während die Liberalen, nach dem Muster aller übrigen Verfassungsstaaten, auf der budgetmäßiger Bewilligung von jeher bestanden. Noch im constituirenden Reichstage von 1867 hatten die nationalliberalen Führer, vor Allen Forckenbeck, Lasker und Twesten, unumwunden ausgesprochen, daß hier die Frage zur Entscheidung stehe, ob fürder die constitutionelle Staatsform in Deutschland aufrecht erhalten oder der Absolutismus wiederhergestellt werden solle. Man hatte damals aber den Austrag vermieden und einen vorübergehenden Zustand geschaffen, der noch für die ersten drei Jahre nach Gründung des deutschen Reiches verlängert wurde.

Jetzt schien ein ferneres Ausweichen unmöglich, und in der vorbereitenden Commission, deren Vorsitzender von Bennigsen, deren bedeutendstes, seiner militärwissenschaftlichen Kenntnisse wegen selbst von den ersten Fachautoritäten bewundertes Mitglied Eugen Richter war, fiel der bestrittene Paragraph, während im Uebrigen Annahme des Gesetzes beantragt wurde. Unter dem Feldgeschrei, es gelte die Wehrlosmachung des deutschen Reiches zu verhüten, wurde das Volk aufgeboten und ein Sturm entfesselt, vor dem die meisten der liberaler Abgeordneten zurückwichen. Ein neuer Ausgleich auf sieben Jahre, das sogenannte „Septennat“, kam mit dem Gesetze zu Stande. Er brachte die Nationalliberalen der Fortschrittspartei

ferner, sie selbst aber verlor elf Mitglieder, welche der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_527.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)