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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

starke, aber herzbewegende Stimme und hatte aus Veranlassung ihrer Herrin während des Aufenthaltes in der Hauptstadt einige Zeit über guten Unterricht genossen, der sie zur Liedersängerin heranbildete. Doch verstand sie nicht, sich zu begleiten. Nun erklang die sympathische Altstimme bei der Begleitung des Capellmeisters zu Aller Freude. Schon in der Residenz hatte Jana einzelne Lieder Fügen’s mit Vorliebe gesungen; ihm war es große Freude, als er fand, wie richtig ihr feiner Instinct den musikalischen Gedanken zu erfassen und wiederzugeben wußte. Wenn er dann selbst spielte, wehte ein wunderbarer Geist über Alle hin. Besonders nach solchen Tagen, wo ihm das Componiren recht nach Wunsch gelungen, strömte es wie elektrisches Feuer aus seinen Fingerspitzen über die Tasten; gab er der alten Meister Schöpfungen wieder, so klang das wie Befreiung und Erlösung von aller Erdennoth; ergoß er sich in freien Phantasien, dann brauste sein individuelles, ausdrucksmächtiges Spiel in einer Kraft dahin, welche über ihn selbst hinauszuwachsen schien.

Das wirkte seltsamer Weise auf Genoveva stets verdüsternd, und wenn es verklungen war, pflegte sie mit stummem Gruß hinabzugehen und mit Keinem mehr zu sprechen. Empfand Fügen gleich an der ganzen Art ihrer Haltung gegen ihn, wie der Mensch, der Künstler in ihrer Schätzung wuchs, so konnte ihn das doch nicht abhalten, ihr Gebahren wunderlich zu finden. Ihm blühte gerade dann die heiterste Stimmung auf, wenn er sich zuvor auf dem Instrument so recht ausgetönt hatte. Sogar eine gewisse Schalkhaftigkeit regte sich dann leicht in ihm und würzte die kurzen Wechselreden, welche er noch mit Jana tauschte, während der Flügel geschlossen, die Lichter gelöscht wurden.

Jana aber ging wie beschwingt in ihr Schlafzimmer, erhellt und gestärkt im Gemüth.




9.

Die Weihnachtskerzen, welche aus der Moosburg von einer Riesentanne gestrahlt hatten, waren erloschen. Nachdem die Kinder in Aufregung und Glückseligkeit weit über die gewohnte Zeit wach geblieben, lagen sie nun friedlich schlummernd in ihren Bettchen. Es war bereits spät; noch saßen aber die Großen im Gespräch, in Erwartung der Mitternacht. Sie hielten sich nicht im gewohnten Raume aus, sondern hatten sich im wohldurchwärmten Terrassenzimmer, wo der Kinder Bescheerung aufgebaut worden und das noch ganz mit Harzgeruch und Wachsdüften angefüllt war, vor dem großen, dreiteiligen Fenster niedergelassen, welches den Ausblick in das Innthal bot.

Es war eine Vollmondnacht; der in großen Massen gefallene Schnee flimmerte weit und breit wie Silber; träumerisch stand das im Lichte des Tages so majestätische Gebirge; seine scharfen Spitzen und Kanten hatten sich unter dem weichen, weißen Flaume gesänftigt, und zwischen beglänzten Kuppen zeichneten sich bläuliche Schluchten, an deren Rande stolze Tannen silbern aufragten. Die Welt erschien so still in der Einsamkeit der weiten, weiten Schneegefilde; der Inn allein durchrauschte als ein Lebendiges das Thal; alle seine Quellen und Nebenflüsse lagen gefesselt unter starrer Eisfläche. Gleich dunklen Adern liefen schmale Wege thalwärts, und auf diesen Pfaden begann es sich zu regen, als die Mitternachtsstunde näher kam. Hat es in der Christnacht zwölf geschlagen, dann wird in allen Tiroler Kirchen feierliche Mette gehalten; jeder Bauernhof entsendet dann einen Theil seiner Insassen, um vor dem neugeborenen Heiland das Knie zu beugen.

Seltsam war es, von dieser hohen Warte aus auf die Wallfahrer niederzublicken; denn von hier aus erschienen ihre Gestalten nur wie dunkle Pünktchen; wie Funken erglänzten die Kienfackeln, welche sie trotz des Mondlichtes in den Händen trugen, während sie hier von den Höhen niederstiegen, dort das Thal durchzogen Alle dem gleichen Ziele zupilgernd, wenn auch nach verschiedenen Richtungen. Scharf zeichneten sich gegen den sternhellen Himmel die schlanken dunkeln Thürme der zahlreicheren Kirchen und Capellen ab, welche in der Thalbucht zerstreut oder von einzelnen Hügelvorsprüngen aufragten Die hohen Kirchenfenster schimmerten allerwärts in blassem Goldglanze; fast in einem und demselben Augenblicke schwang sich vielstimmiges Glockengeläute empor. Diese hallenden, schwellenden Töne verliehen der feierlich stillen Schneelandschaft etwas Prächtiges und entführten die Geister, welche ihnen lauschten, in weltentfremdete Regionen.

Lange schon waren die Glocken verhallt, als Fügen das Schweigen brach:

„Wie stimmt diese schneeweiße Welt doch so schön mit dem Christkindgedanken! Der Heiland sollte inmitten einer Schneelandschaft geboren sein – so rein ist nicht einmal ein Frühlingsmorgen.“

„An einem Frühlingsmorgen ward er dann gekreuzigt,“ sagte Genoveva.

Fügen wandte jäh den Kopf und sah sie fragend an. Die langsam gesprochenen Worte hatten ihn herbe berührt – nun begegnete er einem gleich herben Zug um die gewölbten Lippen. Ihre Meinung war ihm räthselhaft, und er brütete dem Sinne der eben gehörten Worte schweigend nach. Seltsam! all das Lichte, wovon seine Seele eben noch erfüllt gewesen, löschte auf einmal vor ihm aus.

„Sie sprechen gläubig vom Heiland,“ fuhr Genoveva fort, indem ihre unergründlichen Augen fest auf ihm hafteten. „Glauben Sie auch an einen Gott, an den Gott, meine ich, welchem in all diesen Kirchen und Capellen täglich so viel irdische Angelegenheiten vorgetragen werden, in der zuversichtlichen Erwartung, daß er sich darein mischen und sie schlichten werde?“

Fügen zögerte einen Moment.

„Habe ich nicht mißverstanden, so fragen Sie mich, ob ich an einen Gott der Gerechtigkeit glaube?“ sagte er nachdrücklich. „Ja! Aussaat und Ernte folgen sich aus Erden.“

„Vorausgesetzt, daß der Lauf der Welt eine Ernte reifen läßt,“ entgegnete die schöne Frau bitter. „Gerechtigkeit! Wo sind Sie der begegnet? Etwa dort, als Sie selbst mit Feuer und Schwert für die Sache der Unterdrückten eintreten wollten? Gottes Gerechtigkeit! In sie sollte das Recht des Schwachen sein und menschliche Gewalt ist es, die Alles regelt.“

Er schüttelte energisch den Kopf.

„Keiner darf die Gottheit anklagen. Was ist uns denn der Himmel schuldig? Es ist wahrhaftig kein Wahn beschränkter Seelen, an die Einmischung einer höheren Macht in unsere Angelegenheiten zu glauben. Mir wenigstens zeigte bis heute jede Existenz, deren intimer Gang mir bekannt geworden, meine eigene mit eingerechnet, einen geheimnißvollen Zusammenhang, der die entferntesten Fäden immer wieder rückwärts spinnt und verknüpft. Es ist mit dem Leben nicht anders wie mit einer Ouvertüre; kein Motiv, das einmal aufgeklungen, verhallt zusammenhangslos. Wie oft wird der Ton, den man in der Jugend angeschlagen, erst im Alter zum Accord; in das, was wir gewollt, mischt sich Unberechenbares und giebt ihm veränderte Gestalt; das, wonach wir streben, wird uns nicht – das Köstlichste fällt uns aber oft ungesucht in den Schooß. In allen Dem erkenne ich einen Plan, dessen durchlaufende Linie sich nur von einem Punkte aus überschauen läßt. Dieser Punkt existirt. Und für Jeden tagt der Moment, wo er einmal dort stehen wird, sollte es damit auch währen bis zu seiner letzten Stunde. Eins aber müssen wir Alle schon auf halbem Wege begreifen, daß aus jeder Verschuldung ganz unmittelbar die Buße aufkeimt.“

„Für Jeden? Wahrlich nicht! Haben Sie so wenig Menschenkenntniß oder sind Sie so optimistisch, um nicht zu sehen, wie das Schicksal, dem Sie einen Lenker zuerkennen, gar viele Schuldige straflos hindurchschlüpfen läßt, ohne Buße, ohne Selbstkritik sogar? Einer büßt dann für diese Alle, und vielleicht war gerade dieser Eine weitaus der Bessere unter ihnen, dessen inneres Sein kerngesund blieb, auch wo er getaumelt. Dennoch – wer sich mit Schuld beladen, mehr oder minder, möge die Folgen tragen! Wenn Ihr Gott aber müßig zusieht, wie dem Unschuldigen Gewalt gegen Recht geschieht, daß er wehrlos schreiende Unbill erleiden muß, welches Wort erfinden Sie dann statt des tönenden Wortes: Gerechtigkeit? – ‚Schicksal‘! werden Sie sagen, und so stoßen wir wieder zusammen“

Er sah betroffen in ihre flammenden Augen. „Sie vergessen das heilige Richteramt der Zeit,“ sagte er in tiefem Ernst; „diese Macht geht mitunter langsam, aber sie kommt – –“

„Wenn man Zeit behält auf die Zeit zu warten, vielleicht. Ich kenne nur Eines, dem sich Jeder unterwerfen muß, ohne Kampf und Murren, weil es die Welt beherrscht – das ist der Tod. Allem Anderen gegenüber heißt es: hilf dir selber, und kannst du’s nicht, so geh zu Grunde!“

Sie brach ab und erhob sich, als wolle sie Weiteres weder hören noch äußern. Die Arme leicht in einander verschlungen ging sie in der Tiefe des großen schwach beleuchteten Saales auf

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 522. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_522.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)