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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


Zeichen an Mauer und Erde; bis in die Merowinger- und Karolingerzeit reicht die Geschichte jener Ortschaften zurück. Das Mittelalter beginnt, und überall begegnen uns die großen Träger seiner Cultur: gewaltige Grafengeschlechter gründen ihre Burg am See; der Mönch baut seine stille Zelle, und singend pflügt der Bauer daneben das alte immergrünende Feld. Doch über dem Waffenlärm und dem Waidruf der einen, wie über dem Glockenschall und Allelujah der anderen, schwebt noch tiefe waldgrüne Einsamkeit.

Diese Einsamkeit ist bis in die letzten Jahre dem Ammersee geblieben. Sein Gebiet ist eines der herrlichsten im baierischen Vorland; glänzend spiegelt sich die lange Bergeskette in seiner Fluth; Hochwald umkränzt die Ufer, aber eine seltsame Fügung hat es gewollt, daß er vergessen blieb von den Tausenden, die allsommerlich hinausziehen und sich jeden Winkel schöner Erde erobern. Obwohl nur etwa sechs Stunden von München entfernt, lag er doch lange Zeit weitab „vom Wege“; denn keine Bahn führt an diese stillen Gelände, und kein Dampfboot durchmaß bisher die blaue Fluth. So blieb denn dieses Fischervolk allein, und die Sonne, die am Abend hinter den Waldbergen versank, sah niemals in's Gewühl drängender Menschenmassen. Erst seit Kurzem hat das Dampfboot, das von Grafrath die Amper hinauffährt und dann den ganzen See durchschneidet, auch diese Pfade erschlossen; der Ammersee ist jetzt erst gleichsam entdeckt worden.

Hoch über uns liegt das Blau eines Junimorgens; die Buchen zeigen das erste Grün, und der Vogelsang klingt rings aus dem Gehölze. Hinter der Bahnstation wartet der kleine Dampfer, der eigens für den schmalen Lauf des Flusses gebaut ward. Das Wasser desselben, das durch seine milde Heilkraft berühmt ist, schimmert uns klar entgegen; weißer Schaum zischt um die Flanken des Schiffes, sowie sich das Steuer regt, und die Fahrt beginnt. Es ist ein wundersamer Wasserpfad - zu beiden Seiten nickt uns das schlanke hellgrüne Schilf mannshoch entgegen und neigt sich unter den drängenden Wogen; ein Wasservogel stiegt kreischend aus dem Röhricht; ein Weidenbaum senkt seine Zweige hernieder. Doch bald genug grüßt unser Auge schon die blaue Fläche und die leuchtenden Berge.

Das kleine Dorf, wo wir landen, heißt Stegen; es liegt am nördlichen Ende des Sees und durch die schattigen Bäume des Ufers hat man den herrlichsten Ausblick. Ueberall heben sich traute Dörflein aus dem Grünen, Idyllen voll Sonnenglanz und Buchenschatten, wir aber lassen den Dampfer von hinnen ziehen, und dann erst löst unser Fährmann den leichten Kahn, der uns hinausträgt auf die schweigsamen Fluthen.

So schweigsam und doch so beredt! – Um unser Schiff kreist die flüchtige Möve; aber alles, was uns umgiebt, steht so uralt eingewachsen in diesem Boden, daß Gegenwart und Vergangenheit fast in einander fließen.

Der Kirchthurm, der zur Rechten herüberwinkt, gehört dem Dorfe Eching; ein altes Edelgeschlecht im zwölften Jahrhundert trug von ihm den Namen, und in Römerzeiten war es ein Angelpunkt der Straßen, die hier das Land durchkreuzten. In den Gräbern, die man dort aufgedeckt, lagen die Leichen im Kreise, mit den Füßen gegen einander gewendet, und mancher Schmuck ward damals unter grünem Wiesengrunde an's Licht gezogen.

Noch weiter drüben, wo die Fenster eines Schlosses glänzen, hausten die „Greifen“, auch ein Edelgeschlecht, das bereits um das Jahr 1400 ausstarb. Damals hieß es wohl jubilirend:

„Von Greifenberg die Greiffen
Die kummen mit Singen und Pfeiffen –“

aber der letzte des Stammes ward in der Türkenschlacht bei Nikopolis gefangen und Sultan Bajazid ließ ihm das Haupt abschlagen – wie mochte sein Herz in letzter Stunde sich sehnen nach den grünen Geländen der Heimath! Jetzt ist der Ort ein bekanntes und wohlverdientes Stahlbad geworden, wo junge Frauen und bleiche Mägdlein ihr Heil suchen – mir aber klang im Ohre das Singen und Pfeifen der lustigen Ritterzeit, dieweil der einsame Kahn hinaustrieb.

Da schaut mit einmal eine grauverwitterte Kirche herüber, ganz im romanischen Stil; am Ufer liegen zerfallene Fischerhütten, und in der Sonne trocknen ausgespannte Netze.

„Wie heißt das Dorf hier mit seiner merkwürdigen Kirche?“ fragte ich den stillen Fährmann.

„Dös Dorf da?“ erwiderte er zögernd; „dös Dorf heißt eigentlich Unterschondorf, aber wir heißen's ‚See‘. Und die Kirchen? Gelt, da müßt' man sich schier schamen!“

Und dann erzählte er gelassen weiter, daß die Gemeinde zu dürftig gewesen, um, wie die übrigen Orte am See, ihre Kirche zu restauriren; auf diese Weise blieb das reizende romanische Bauwerk unversehrt erhalten. Es ist aus Tuffstein errichtet und mag etwa aus dem zwölften Jahrhundert stammen; weitum im ganzen Gau ist es das einzige Gebäude, das noch ganz seine einstige Gestalt bewahrte. Selbst wenn wir inmitten großer historischer Städte stehen, muthet uns solch' altes Gemäuer gar köstlich an, um wie viel mächtiger wirkt es hier – mitten im grünen Laube und in der Einsamkeit des Dorfes!

Aber auch die Fluth, nicht nur das Land, erzählt von alten Zeiten; denn wenn die Luft und das Wasser stille sind, dann zeigen sich unter dem Spiegel des Sees noch die Reste von Bauten, die aus römischen Bädern stammen; ja die Sage erhielt sich lange Zeit, die Römer hätten einst über den ganzen See eine Brücke geschlagen. Noch Westenrieder, der große Meister baierischer Volkskunde, huldigte dieser Ansicht, die allerdings dadurch einen gewissen Halt fand, daß die Felsen des Seegrundes an der vermeinten Stelle besonders nahe hervortreten.

Der Hauptort auf dem linken Ufer ist Diessen; drüben beherrscht Berg Andechs die Gegend. Aber auch in historischer Beziehung dominiren diese Orte; denn nach ihnen waren die Grafen von Diessen-Andechs genannt, eines der gewaltigsten Dynastengeschlechter aus der Zeit der salischen und staufischen Kaiser.

Von Franken bis nach Tirol und Istrien reichten ihre Güter; Schloß Amras war ihr Eigen, und Innsbruck ward von ihnen begründet; mit allen Großen des Reiches und mit allen Thronen Europas standen sie in enger Verbindung. Adelheid, die Schwiegermutter des deutschen Kaisers Conrad und des griechischen Kaisers Manuel, war eine Gräfin von Diessen, die Söhne des Hauses aber begegnen uns in allen Landen als mächtige Degen. Wir finden sie auf dem Bischofsstuhle von Bamberg und Regensburg und als Patriarchen von Aquileja, und Berthold der Vierte ward sogar Herzog von Dalmatien und Kroatien, allein noch glänzender waren, wie gesagt, die Wege der Töchter. Die eine vermählte sich mit dem König von Frankreich, die andere mit dem König von Ungarn, und wieder andere nach Burgund und Savoyen, nach Mähren und Schlesien, nach Oesterreich und in das Haus der Burggrafen von Nürnberg. So lebt noch heute in dem Kaiserstamm der Habsburger und Hohenzollern, und in den Königsfamilien von Baiern, von Bourbon und von Italien ihr Blut, ihr eigenes Haus aber brach nur allzu schnell zusammen. Fehde und Zwist zersplitterte den Besitz, der allenthalben willige Erben fand, als im Jahre 1248 der Mannsstamm erlosch.

So war denn mit jähem Verfall eines der mächtigsten und ältesten Geschlechter Deutschlands geschwunden, die Güter um den Ammersee aber fielen an das Wittelsbachische Haus und theilen nun seit mehr als sechshundert Jahren die Geschicke Baierns.

Wer jetzt in das grüne seeumspülte Oertlein kommt, merkt wenig mehr von jener stolzen Vergangenheit; nur das geistige Auge fühlt ihren stummen Zauber. Wohl aber gemahnt uns noch so manches in der Anlage und Architektur, ja fast möchten wir sagen, in der Stimmung des ganzen Ortes an das stattliche Kloster, das die Grafen von Diessen hier gegründet. Es stammt aus dem zwölften Jahrhundert und war anfangs sowohl für Männer wie für Frauen zugänglich, bis die letzteren allmählich „ausstarben“. Das Herrenstift indessen, welches die Besitzungen derselben gewann, erfreute sich allzeit mächtiger Gönner und hatte reichen Besitz an Land und Leuten, an „Wunn und Weide“, an Fischrecht und Mühlen; vor allem war ihm Kaiser Ludwig der Baier hold, der den Ort zum Bannmarkte erhob und dessen Bildniß noch jetzt an dem ehemaligen Rathhaus prangt. Schon die langgestreckten weiträumigen Mauern haben etwas historisch-klösterliches; grünes Laubwerk umgiebt uns, und weithin herrscht der Blick über die Fluren des Landes und über die Hütten der Menschen.

Obwohl die Kirche im Barokstil verunziert ist, birgt doch ihr Inneres noch manches Wahrzeichen aus großer Zeit; denn allenthalben sehen wir die Grabsteine jener gewaltigen Dynasten, die hier „schlafen in steinernen Särgen“, wie das Wort des Dichters sagt, und im Kuppelgewölbe prangen die Bilder der Heiligen, die aus ihrem Geschlechte hervorgegangen oder mit demselben verwandt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 515. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_515.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)