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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)


Knute; man schleppte ihn nach Sibirien, an dessen Eingang er als sicheres Opfer vom Tode begrüßt wurde. Da ward er blutdürstig wie ein wildes Thier, rachsüchtig bis zum Wahnwitz, ein Mörder, dem das eigene Leben nur noch dazu gut zu sein schien, um anderes Leben zu zerstören. Und die Verzweiflung ist ansteckend.

Der Nihilismus hat auf solche Weise in alle Schichten der Gesellschaft sich eingeschmuggelt, alle Behelfe, welche ihm Wissenschaft, Geschichte, Erfahrung gewähren konnten, sich angeeignet; er arbeitet nicht blos mit Dynamit und Revolver, unterminirt nicht blos ganze Straßen, er hat auch seine literarischen Sendlinge, welche mit raffinirter Bedachtsamkeit alle guten Instincte in der Seele des Volkes vergiften. Da wird geschmäht und verhöhnt, herabgesetzt und entwürdigt, was die Weltliteratur Großes hervorgebracht hat; ein Goethe, ein Shakespeare, ein Schiller, ein Puschkin – sie alle werden verlästert. Da wird ferner der Diebstahl als etwas Menschenwürdiges erklärt, dem Mörder eine Aureole um die Stirn gewunden. Der heutige Nihilist weiß nicht mehr, was er will; er weiß nur noch, was er nicht will. Seine Seele ist verthiert; seine Augen sind mit Blut unterlaufen. Er will nicht den Staat, nicht die Sitte, nicht die Religion, nicht einmal sich selbst. Da sich der Staat in seinen Werkzeugen ihm von der verächtlichen Seite zeigte, da sein Leben, seine Freiheit zum Spielballe in der Hand des Tschinownik wurden, da ein Kosak dem Czar mehr werth zu sein schien, als tausend nach politischem und geistigem Fortschritte lechzende Jünglinge, so verlor er den Respect vor den Institutionen, vor den Menschen, vor sich selbst.

Wo aber, fragt man, sind die besonneneren Elemente in Volk und Gesellschaft? Warum stehen sie nicht ein für die Erhaltung von Staat, Sitte, Religion?

Die besonneneren Elemente in Rußland sind nur die feigeren Elemente. Wer im Czarenstaate denken kann, ist allemal ein „unfreiwilliger Nihilist“. Der Bauer zählt nicht; denn er ist in den zwanzig Jahren seit seiner Befreiung aus der Leibeigenschaft noch nicht zum politischen Menschen herangereift. Und wenn er dereinst mitzählen wird, so fragt es sich, ob er nicht ebenfalls, in der Erinnerung dessen, was er gelitten, zum Nihilismus schwören wird. Einen bürgerlichen Mittelstand hatte Rußland nicht bis zur Alexandrinischen Reform-Aera, seitdem aber haben die wechselnden Unterrichtssysteme unter der heranwachsenden Jugend unberechenbares Unheil angestiftet.

Bald war es ein Aufklärungsminister, der die Realien, bald ein anderer, der die classischen Unterrichtsgegenstände bevorzugte, bald einer, der den Studenten alle akademischen Freiheiten einräumte, den Studentinnen alle Zügellosigkeiten nachsah, bald ein anderer, der die Knaben militärisch erziehen, die Mädchen auf den Elementarunterricht beschränken wollte. Das vierzehnclassige Beamtenthum will an dem Staate sich bereichern; es betrügt diesen ebenso wie das Volk, je nachdem dort oder hier die Gelegenheit eine günstige ist. Justiz und Verwaltung sind nur dem Namen nach, nicht thatsächlich getrennt. Der Adel, einst durch die Leibeigenschaft reich, ist verarmt oder vergeudet die Reste seines Vermögens im Auslande; er drängt sich nicht, wie anderswo, zum Staatsdienste, oder wenigstens nur, wenn seine Existenz es gebieterisch von ihm fordert. Viel haben seit zwanzig Jahren die „privilegirten“ Classen in Rußland gelernt; mitunter möchte man staunen über das Maß von wissenschaftlicher Aneignung, aber es ist immer nur die Arbeit des Autodidakten, des Sammlers auf fremdem Kornfelde. Nirgends erquickt der Anblick einer Originalität, es wäre denn, daß man dieselbe an jenen Schriftstellern rühmen wollte, welche kunstgerecht die Kritik des eigenen Volksthums und Gesellschaftswesens bis zur Selbstdenunciation treiben. Iwan Turgenjew, die leuchtende Ausnahme, gehört dieser Generation nicht an, er hat vor ihr begonnen, und steht himmelhoch über ihr, seitdem er sich im freiwilligen Exil von ihr losgelöst.

Es ist klar, daß eine aus solchen Bestandteilen zusammengesetzte Gesellschaft jeder Thatkraft ermangeln muß, wenn ihr die Aufgabe zugemuthet wird, zur Rettung des Staates mitzuwirken. Zur Moralität ist sie vom Staate nicht erzogen worden und durch eigenes Bedürfniß nicht herangereift; der Patriotismus, der ihr gelehrt wurde, wechselte seine Ziele, je nachdem Herr Katkow, der einflußreiche Redacteur der „Moskauer Zeitung“, dem „Westen“ den Krieg erklärte, die Panslavisten das Gelüste nach den Süßen Wässern reizten, der Hof in Petersburg an der Freundschaft Deutschlands Gefalle fand. Nun steht diese Gesellschaft eingekeilt zwischen den beiden gewaltigen Gegensätzen, der Dynastie und dem Nihilismus, und wenn man erwägt, daß der politische Kern des Nihilismus, losgeschält von den Unthaten und Excessen der letzten Jahre, immerhin einem allgemeinen Bedürfnisse näher liegen muß als der Despotismus mit seiner Beamtencorruption, wenn man bedenkt, daß das System der „Verschickung“ aus allen Bevölkerungsschichten in gleicher Weise lastete und die „dritte Abtheilung“ keinen Unterschied zwischen Westlern und Altrussen machte, so hat man wohl ein Recht, zu glauben, daß die ungeheure Mehrheit der Denkenden in ihrem Inneren für den Nihilismus Partei nimmt, daß die Stärke des letzteren in der Abwendung der intelligenten Bevölkerung vom Staate wurzelt. Ist dies aber der Fall, so versteht man auch, warum es im Grunde müßig ist, zu fragen, über wie viele Hände der Nihilismus verfügt. Ganz Rußland ist ein einziger Herd der Revolution. Hier flackert sie auf und dort; ein Schuß lenkt die Aufmerksamkeit auf sie; ein Mord bezeichnet ihre Spur, eine Mine ihre unausgesetzte unterirdische Arbeit. „Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen,“ sagt unser großer Dichter, und dies gilt auch von den Nihilisten. Die energischen unter ihnen organisiren sich; die anderen folgen nach, verheimlichen, was sie wissen und sehen, lenken die Polizei von der richtigen Fährte ab. So erbt sich das Unheil einer allen billigen Forderungen trotzenden autokratischen Regierung fort; das Mißvergnügen nimmt ungeheure Formen an; die Ohnmacht der Persönlichkeit schlägt in Verzweiflung um, und Verwirrung erfaßt die Köpfe, sodaß ihnen die frevelhafteste That als die beste erscheint.

Der Nihilismus ist das Ergebniß einer dynastischen Politik, in deren Programm niemals die Volkserziehung stand. So lange vom Westen her sittigende Einflüsse in Rußland wirksam waren, enthielt er nichts, was nicht auch anderswo zu den Merkmalen der Revolution gehört hätte. Als aber die russische Gesellschaft diese Einflüsse abzuwehren begann, empfing der Nihilismus jene specifisch russische Signatur; er verwilderte bis zu solchem Grade, daß an ihm das demüthigende Wort sich bewahrheitete: „Kratze den Russen und es kommt der Tatar zum Vorschein.“

An politischen Weisen fehlt es nicht, welche ganz genau wissen, was geschehen muß, um den Nihilismus zu bändigen und Rußland vor einer Revolutions-Katastrophe zu bewahren. „Eine Verfassung, ein Parlament!“ rufen die Einen, „Repression!“ die Anderen. Die Frage ist nur, ob die Wurzel des Uebels eine politische und mit politischen Maßregeln auszurotten ist. Der Nihilismus dünkt uns aber eine volkspädagogische Krankheit zu sein, und zwar eine solche, deren Heilung zugleich von der nationalen, von der politischen und von der socialen Seite in’s Werk gesetzt werden muß. Fünfzig Jahre und darüber zehrt diese Krankheit bereits an dem Leibe Rußlands; Puschkin und Gogol sind an ihr zu Grunde gegangen wie die Czaren Nikolaus und Alexander der Zweite. Am deutlichsten lassen sich die Zerstörungen, die sie angerichtet, an dem Verlaufe der russischen Literatur aufzeigen, in welcher sich die einzelnen Stadien getreulich widerspiegelten, und deshalb mag es uns vergönnt sein, in einigen weiteren Betrachtungen Alexander Puschkin als den literarischen Vorläufer, Nikolaus Gogol als den Propheten und Iwan Turgenjew als den Psychologen des Nihilismus dem Leser vorzuführen.




Der Ammersee.
Von Karl Stieler.

Es ist ein Zauber uralten Lebens, der über den Gauen des jene baierischen Vorlandes liegt. Schon in der Römerzeit erhoben sich hier gewaltige Castelle, welche die Straße beschirmten; noch zeigt der Boden die Spur Derjenigen, die ihn damals gepflügt, und jene stillen Gräberreihen, in denen Lust und Mühsal ihres Lebens zur Ruhe kam.

Dann wurden sie verdrängt von der jugendlichen Kraft der Germanen, und auch deren Spur haftet noch in tausendjährigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_514.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2022)