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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Ein bedeutendes Vekehrshinderniß bilden in New-York, wie in fast jeder amerikanischen Großstadt, die an und auf dem Trottoire aufgethürmten Waarenballen, Kisten und Fässer, welche die Passage für Fußgänger versperren, während man in Europa der Ansicht ist, daß eine Stadt, die sich des größten Verkehres zu erfreuen hat, in erster Linie darauf bedacht sein müsse, ihre Verkehrswege offen zu halten. Ein fernerer Uebelstand ist es, daß in New-York hinsichtlich der Straßenreinigung absolut nichts geschieht.

Der Zustand der Straßen, namentlich im unteren belebtesten Theile New-Yorks, ist, wie man allgemein klagen hört, zur Winterszeit ein wahrhaft fluchwürdiger, und wer dazu verurtheilt gewesen, das erste Quartal dieses Jahres in New-York zu verleben, der hat auch sicherlich bezüglich des Zustandes der dortigen Straßen jeden ihm zu Gebote stehenden Kraftausdruck zur Anwendung gebracht. Man kann den Bürgern New-Yorks wahrhaftig nicht nachsagen, daß sie lahme Daumen haben, wo es sich um eine allgemeine wohlthätige Einführung handelt, und so ist auch in New-York zu dem Zwecke der Straßenreinigung eine Summe ausgeworfen, die hinreichen würde, ein Vierteldutzend europäischer Großstädte in passablem Zustande zu erhalten. Dem breiten Goldstrome aber ergeht es wie so manchem Strome: er zerfließt in unzählige Nebenarme, und nur ein armselig schleichendes Bächlein erreicht seine wahre Bestimmung. Und da also das hochlöbliche Straßenreinigungsbureau demnach in Wirklichkeit nicht viel auszugeben hat, so beschränkt man sich höchstens darauf, die Gossen und Cloaken offen zu halten; das Andere, die Zerkleinerung und Auflösung der Schnee- und Kothmassen, wird den Füßen der Passanten, den Lastwagen und – dem Thauwetter überlassen. Wen mag es da wundern, daß New-York, das sich, ringsum von Wasser umgeben, unter allen Großstädten der Erde der denkbar günstigsten Lage für Sanitätszwecke erfreut, doch mit größerer Sterblichkeit behaftet ist als die meisten anderen Großstädte.

Vor mir liegt „Harper’s Weekly[WS 1]“ vom 2. April 1881. Ein doppelseitiges Bild entrollt ein schauerliches Nachtstück – an Stelle der Freiheitsstatue, die den Hafeneingang von New-York zieren soll, aber immer noch nicht fertig werden will, erhebt sich auf hohem Postamente ein gräßliches Knochengerüst, die Todtenrolle im Arm, eine umgekehrte Fackel, der die letzten Funken entfallen, hoch empor haltend. „Laßt alle Hoffnung hinter Euch, die Ihr hier eintretet,“ so lautet das fürchterliche Mahnwort des Postaments, hinter welchem in der Ferne die Lichter der Riesenstadt aus dunkler Nacht herüberglänzen. Und nur allzu wahr gezeichnet ist das schauderhafte Gespenst, welches, im Dunste und Kothe der Straßen geboren, ungesehen die Häuser der Menschen durchschleicht, um die Schuld und das Vergehen Einzelner an Tausenden zu rächen.

Hoffen wir, daß die Stadtverwaltung der schönen Metropole nunmehr in erster Linie es sich angelegen sein lasse, Mittel und Wege zu finden, um Leben und Gesundheit ihrer Bürger und vieler Tausender von Fremdlingen zu bewahren!




Nihilismus und russische Dichtung.

Studien von Wilhelm Goldbaum.
1. Ursprung und Wesen des Nihilismus.

Mit staunendem Interesse ist die Welt den schreckhaften Erscheinungen im heutigen Rußland zugewendet. Niemals und in keinem Staate wurde eine ähnliche revolutionäre Bewegung gesehen, und die historische Vergleichung, sonst so fruchtbar und anregend, erweist sich in diesem Falle als völlig unzureichend, das Werden und das Wesen des Nihilismus zu veranschaulichen, geschweige zu erklären. Eine ganze Literatur von Büchern und Flugschriften ist binnen drei Jahren über den Nihilismus entstanden. Vertheidiger und Ankläger, die Letzteren in der Mehrzahl, entwickelten ihre Gedanken über denselben bald an der Hand der Geschichte, bald im Anschlusse an die Thatsachen, welche wir selbst noch jüngst erlebt haben. Allein es ist aus vielen Gründen mißlich, die schauerlichen russischen Vorgänge mit früheren oder gleichzeitigen historischen Ereignissen oder Zuständen zu vergleichen, weil weder das römische Kaiserreich in seinem Verfalle, noch Frankreich vor der großen Revolution sich mit dem heutigen Rußland vergleichen lassen, weil ferner die Volksindividualität, mit welcher man es hier zu thun hat, ganz anders geartet ist als jede sonstige, an welcher die große Lehrmeisterin Geschichte sich bereits erprobte, weil endlich die Grenzen der nihilistischen Bewegung nur äußerst schwer zu ermitteln sind und Niemand zu sagen vermag, ob die Wurzeln des Nihilismus politischer, ob sie socialer, ob literarischer Art sind. Man hat bisher noch immer den Sinn aller Revolutionen aus dem Verhältnisse der regierenden und regierten Schichten zu einander construiren können; diese beiden Schichten lagen eine über der anderen, und es handelte sich darum, in gewaltsamer Drehung diese Lage zu verändern; was oben lag, sollte hinunter, das Untere hinauf. So in England, Frankreich, Deutschland, so auch im Alterthume, wo Aristokratie und Demokratie ganz besonders sichtlich um den Vorrang stritten.

Jedoch in dem heutigen Rußland hat die Bewegung nicht den Charakter der Auseinandersetzung zwischen den unteren und den oberen Schichten der Gesellschaft. Der Nihilist darf weder mit dem Plebejer im alten Rom, noch dem englischen Rundkopf, dem französischen Sansculotten oder dem deutschen Demokraten verglichen werden. Zum Nihilismus stehen in gleicher Weise die Mitglieder der höchsten Aristokratie wie die Söhne und Töchter des Popen, des befreiten Leibeigenen, des jüdischen Schänkwirths. Nicht die socialen Schichten ringen mit einander, sondern die Individuen erheben sich gegen die Institutionen; die Gesellschaft kämpft wider den Staat, und weil Aehnliches noch niemals gesehen worden, weil Niemand voraus zu sagen vermag, wohin es bei solchem Kampfe kommen soll, deshalb ist der Nihilismus eine so unheimliche, mysteriöse Erscheinung, die man völlig mißversteht, wenn man sie nach den bisherigen geschichtlichen Wahrnehmungen in eine bestimmte Kategorie verweist, welche vielmehr aus allen zugänglichen Gesichtspunkten, aus dem politischen, socialen, literarischen und nationalen gefaßt werden muß, wenn sie nicht in ihrem Wesen verkannt, in ihrer Tragweite, in ihren Ursachen und wahrscheinlichen Wirkungen unterschätzt werden soll.

Der Russe macht seine Revolution auf seine eigene Art, weil das Blut, das ihm in den Adern rollt, in ganz eminentem Sinne ein „gar besonderer Saft“ ist. Zu diesem Blute hat der Slave, der Normanne, der Tatar einen Tropfen hergegeben, und die Mischung, welche entstand, ist mit keiner anderen zu vergleichen. Im Russen liegt die Trägheit neben der Grausamkeit, der Fatalismus neben der Romantik, die Phantasie neben der Thatkraft, der denkbar roheste Realismus neben idealistischer Uebertreibung. Namentlich aber ist es der Nachahmungstrieb, welcher in dem Russen lebhaft entwickelt ist. Er lernt leicht, was sich Anderen absehen läßt; er besitzt ein unvergleichliches Sprachtalent, einen lüsternen Sinn für fremde Bräuche und Moden, ein Verständniß für Alles, was er zu seinem Vortheile der Fremde entlehnen kann. Wenn er nichtsdestoweniger sich geberdet, als bedürfe er keiner fremden Anregungen, so ist dies eine Prahlerei, welche ebenfalls zu den Grundzügen seines nationalen Wesens gehört. Seine großen Dichter haben nach fremden Mustern sich gebildet und nach ihnen geschaffen; seine Aristokraten sind in die französische Schule gegangen; seine Revolutionäre haben der Wissenschaft des Westens die fürchterlichen Behelfe abgeborgt, mit denen sie ihre Attentate verüben. Puschkin läßt sich auf Goethe und Lord Byron zurückführen wie der Adept auf den Meister; Petersburg ist ein nach Rußland verpflanztes Paris; den Dynamitattentaten von Moskau und im Winterpalaste diente die entsetzliche Thomas-Uhr von Bremerhaven zum Vorbilde und Muster. Ueber diese Thatsachen ist nicht hinwegzukommen, wenn man den russischen Nationalcharakter richtig beurtheilen will, und das Ergebniß, welches sie liefern, fällt nicht besonders günstig aus. Ist es nun den letzten Generationen in Rußland zum Bewußtsein gelangt, daß sie sich in dem Völkerreigen Europas so geringer Originalität zu berühmen haben, so sind sie bei der Abhülfe dieses Mangels auf den schlechtesten Weg gerathen, der sich ihnen jemals hätte darbieten können; denn statt sich an dem fremden Beispiele zu läutern, haben sie plötzlich dasselbe verpönt, um sich an dem Traume einer ureigenen nationalen Entwickelung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Weeckly
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_511.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2022)