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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Tisch aufgeschlagen war, da schien ihm schon Etwas von Leontinens Gegenwart durch den Raum zu schweben, jenes zauberhafte Parfum ihrer Nähe, an das er nur zu denken brauchte, um augenblicklich völlig im Bann seiner Liebe zu sein.

Leise und vorsichtig räumte er die große Staffelei bei Seite, der Mond schien so hell – Licht brauchte er nicht. Nur einen Strauß weißer Frühlingsblumen stellte er noch vom Fenstersims herüber auf den Tisch und einen Teller voll duftender Orangen; dann trat er hinaus und schloß die Thür hinter sich ab.

Nun hatte er höchstens noch eine Viertelstunde zu warten. Er setzte sich auf die tief im Schatten stehende Bank nahe der Thür und suchte sein ungeduldig klopfendes Herz mit allerhand tatsächlichen Vorstellungen zu beschwichtigen. Er malte es sich aus, wie dunkel das kleine Canälchen jetzt sein mußte, wo Antonio wartete, und wie stille schon das ganze Hotel, bis sich endlich das Seitenpförtchen öffnete und eine leichte Gestalt wie ein Schatten in das Schiff herniederglitt. Dann sah er dieses dunkle Schiff von fernher über die mondglitzernden Wellen kommen; er rechnete die Minuten aus und zählte sie an seinen Pulsschlägen, bis das Schiff da sein konnte; dann eilte er zum Pförtchen.

Alles still – der breite, schwarze Schatten der gegenüberstehenden Mauer deckte den Canal; nur von der Biegung her glänzte grell eine weiße Hauswand, scharf überschnitten von der schwarzen hochgewölbten Bogenbrücke.

Geduld! Sie konnte noch nicht abkommen. Wieder warf er sich aus seine Bank, den Kopf in die Hand gestützt, und sah zu der feierlichen Sternenwelt empor.

Ihr stiller Glanz und der weiche Dufthauch, zusammt seinen eignen überströmenden Empfindungen versenkten ihn bald in allerhand mystische Träumereien. Die ganze Ewigkeit stand ihm leuchtend zu Häupten, und sein eigenes Herz voll Liebe und Sehnsucht war Eins mit dem Weltall und allem Leben der Natur. Er gedachte der unzähligen Menschenaugen, die mit und vor ihm hoffend und wünschend zu den Sternen emporsahen, und in halben, träumerischen Vorstellungen, die in seiner Seele auftauchten und hinzogen, wie droben vor dem Mond die hellen Wolkenflocken, ging ihm der Sinn der alten Fabel vom Weltbildner Eros auf. Hier unter den dunklen Lorbeerzweigen, den heidnischen Mondesglanz vor Augen, der seine silbernen Zaubernetze über Gebüsche und Blüthenbäume warf, wie vor Jahrtausenden, war der rechte Ort dazu, und Erich bekannte sich von ganzem Herzen zu dem Cultus des schönen Gottes. Dies war des Gottes Stunde – –

Da – horch! Ein Ruder von ferne!

Er eilte nach der Thür und sah eben noch eine Barke um die Ecke verschwinden. Elf Uhr war es längst; nun mußte sie kommen. Rastlos und leise schritt er in dem Gange hin und her und rechnete sich es selber vor, daß sie nicht ausbleiben könne; sie hätte ihm ja sonst Nachricht senden müssen; sie wußte ja, daß er wartete – und mit welchem Herzen! Nein, es war unmöglich, daß sie nicht kam.

Mehr als eine Stunde war verstrichen; in Erich dämmerte eine böse Ahnung auf; der Mitternachtsschlag dröhnte dumpf von San Marco herüber, und alle kleinen Glocken wiederholten ihn im Chor; das Mondlicht begann aus dem Gärtchen zu weichen; die Schatten wurden tief und schwarz.

Plötzlich – was war das? Ein Rauschen, näher und näher – es hielt – er stürzte zur Thür.

„Antonio, Du allein? Wo ist die Signora?!“

„Das hat sie mir gegeben, nachdem ich beinahe zwei Stunden gewartet,“ sagte der Alte mürrisch und zog einen Brief aus der Brusttasche, „dann kehrte das Fräulein schnell wieder um und eilte in’s Haus hinein. Befehlen Sie sonst noch etwas, Signor?“

„Nein. Es ist gut; komme morgen früh wieder!“ sagte Erich tonlos und wandte sich ab. Die schlimme Gewißheit, ob auch noch so sicher vermuthet schlug ihn doch gewaltig nieder.

„Vielleicht ist es nur ein Aufschub auf morgen.“ Er raffte sich auf und eilte in’s Atelier, um Licht anzuzünden und den Brief zu lesen. Das Couvert war klein und zierlich; der wohlbekannte Duft entströmte ihm.

„Erich, Erich!“ rief in diesem Augenblicke Bartels vom Vorderhause her. Es klang dringend. Aber Erich hörte nicht; sein Blick haftete auf den wenigen, flüchtig geschriebenen Zeilen:

„Ich kann nicht mehr zu Dir kommen. Seit einer Stunde bin ich N.’s Braut. Es mußte sein und wäre unter allen Umständen so gekommen; nur heute hoffte ich noch frei zu sein. Du siehst, ich bin ehrlich – wirft Du mich nun hassen?

Lebe wohl und glaube, daß ich Dich allein auf dieser Welt geliebt habe.                     L.“

Wie vom Donner gerührt stand Erich ein paar Augenblicke da; es brauchte eine gewaltige Anstrengung, bis er sich von der Wahrheit dessen überzeugen konnte, was seine Augen lasen. Dann überkam ihn eine heiße Wuth; er schleuderte der Brief zur Erde und trat heftig mit dem Fuß daraus. Zorn und Scham über seine Einfalt stürmten in ihm und unsägliche Verachtung einer solchen Scheinseele – aber das war’s nicht allein, ein unerträglicher stummer Schmerz bohrte mit um so schärferen Qualen innerlich, je stärker und wilder er sich dagegen zur Wehre setzte.

„Daß es möglich ist – daß dies möglich ist, nach einer Stunde wie die von gestern … !“

Weiter drangen seine Gedanken nicht, und sie würden vielleicht noch lange von diesem Unbegreiflichen zurückgeprallt sein, hätten nicht rufende Stimmen sie gewaltsam verscheucht. Er unterschied die Klagelaute der alten Barbara, und ihnen voran trat Bartels eilfertig und aufgeregt über die Schwelle.

„Komm herauf“ rief er athemlos; „die Frau liegt im Sterben; sie verlangt nach Dir, eile! Was starrst Du mich so an? Komm, sage ich!“ Und im nächsten Augenblick war er wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Erich raffte sich gewaltsam zusammen

„Menschenloos!“ sagte er. „Es leiden Viele zugleich auf Erden!“

Er trat in das Gärtchen hinaus – theilnahmlos starrten die schwarzen Aeste in die Nachtluft, und vor dem Monde hing eine große finstere Wolke.

Dann stand er ober in dem düsteren Sterbezimmer, und jede persönliche Empfindung in ihm schwieg vor dem Jammer dieses letzten Abschieds. Das müde, eingesunkene Todtengesicht lag dicht an der weichen, warmen, von heißen Thränen überströmten Wange des Mädchens, das mit tausend stehenden Liebesworten die Mutter zu halten und den Tod abzuwehren suchte. Aber er hatte seine Beute sicher gepackt; ein letztes tiefes Aufathmen, noch ein flehentlich bittender Blick auf Erich, mit dem ihre Seele auf die Lippen trat – dann streckte sie sich lang aus, und es wurde ganz still im Zimmer, so schauerlich still, daß es eine Wohlthat gewesen wäre, die seufzenden Atemzüge wieder zu hören.

Mit einem herzzerreißenden Schrei fuhr Nina in die Höhe. Erich fing die Taumelnde in seinem Arme auf.

„Armes Kind,“ sagte er voll tiefen Mitgefühls, „wir sind Beide einsam. Ich will Dein Bruder sein und Dich nicht verlassen.“

Drei Tage später war das äußerliche Leben wieder in seine Geleise zurückgekehrt. Durch die geöffneten Fenster des Sterbezimmers strömte Sonnenschein und Frühlingsluft; die alte Barbara räumte und scheuerte und hatte dabei ein stetes Augenmerk auf „das Kind“ gerichtet, das blaß und still im schwarzen Kleide herumging. Nina sah traurig aus und müde vom vielen Weinen, aber in ihrem ganzen Wesen war schon wieder die besonnene Umsicht, zu welcher die Italienerin rascher zurückkehrt, als die Deutsche. Sie schien gewachsen und älter geworden, wie sie so ernsthaft und Alles bedenkend mit der Alten im Hause schaltete; schöner war sie auch geworden; man sah jetzt, wo das Kinderlächeln verflogen war, so recht den edlen Schnitt dieser sammetdunklen Augen unter der festen Stirn und den süßen Reiz ihrer feingeschweiften Lippen.

„Sie ist wirklich ein Engel!“ pflegte Bartels einige Male des Tages im Tone einer persönlichen Beleidigung zu Erich zu sagen, ohne doch dadurch den gehofften Zank provociren zu können; die wortkarge Geistesabwesenheit des „jungen Menschen“ blieb sich unabänderlich gleich, und wo er den Tag über steckte, konnte man auch nicht erfahren; so hatte es denn Johann Casimir Bartels endlich für zweckmäßig erachtet, mitten am Vormittage einen kleinen Recognoscirungsgang nach der Riva und deren Umgebung hin anzutreten. Von diesem kehrte er soeben mit einem äußerst pfiffigen und überlegenen Gesichte zurück. Da sah er mit großer Ueberraschung beim Eintritte in sein Atelier Erich stehen, der ihm den Rücken zuwandte und eben im besten Zuge war, ein künftiges Büstenpostament mit wuchtigen Schlägen aus dem Rohen herauszuhauen, daß die Splitter ringsum stoben.

Der Alte blieb stehen und nickte vergnügt mit dem Kopfe:

„Er macht sich, er macht sich – sieh, sieh! Und nicht einmal

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_487.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)