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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

daß selbst in weiteren Kreisen das Interesse an der Verhütung sonstiger Nothstandsepidemien sich stark zu regen beginnt. Den Erfahrungen gegenüber, die Deutschland gelegentlich seiner letzten Hungerseuchen (1848 in Oberschlesien, 1852 im Spessart, 1868 in Ostpreußen) zu machen hatte, dürfen wir darauf stolz sein, daß es im vorigen Jahre möglich war, die öffentliche Aufmerksamkeit rechtzeitig auf die ernst bedrohten Kreise der schlesischen Provinz zu lenken und durch thatkräftige Maßregeln den Ausbruch des Hungertyphus zu verhüten Im Schooße eines geeinigten, zu Mitleidsspenden willfährigen Volkes, im Gebiete eines, wenn auch nur in einzelnen Theilen wohlhabenden, aber von Eisenbahnen durchzogenen Staates darf das massenmordende Gespenst des Nothstandstyphus nicht mehr beobachtet werden.

Man hat sich längst darüber geeinigt, daß die Regierungen für das Hereinbreche der sogenannten großen Wanderseuchen – der Pest, des Gelbfiebers und der Cholera – verantwortlich zu machen sind. Freilich gestaltet sich die Aufgabe, diese zu bekämpfen oder ein Gemeinwesen vor ihnen zu schützen, für die Staatsbehörden ganz anders, als das Publicum im Augenblick der Gefahr sich denkt.

Man kann nicht Krieg führen, ohne einen auch zur Friedenszeit dauernd und unablässig arbeitenden Generalstab; man kann keine Seuchen bekämpfen, ohne Vorbereitungen und durchdachte Pläne.

Hierin wird die Auffassung des weitsichtigen Staatslenkers sich am deutlichsten von der des simplen und sorglosen und von dem unklugen Gebahren des gemeinen Mannes unterscheiden. Während der Letztere in seiner Angst verlangt, daß man die ganzen heimgesuchten Städte und Dörfer, ja wo möglich die Kranken selbst vernichte und verbrenne, muß ihm erwidert werden können, daß man längst Mittel zur Zerstörung des Krankheitsgiftes mit gutem Erfolge gesucht und erprobt habe; während Jener den Boden, den er bewohnt, den Brunnen, aus dem er trinkt, die Luft, die er athmet, beim Herannahen der Cholera in feiger Flucht verlassen will, muß schon der Beweis zur Hand liegen, daß man seit Jahre seine Sorglosigkeit überwachte und die schlimmsten Schädlichkeiten und Verunreinigungen beseitigte, daß er sicherer hier bleibt, als daß er anders wohin flieht. Wenn ferner der Einzelne verstört darüber grübelt, was er zum Schutze seiner Person thun und wie er den gefürchteten Ansteckungsstoff von sich fern halten soll – kann ihn eine allgemein durchgeführte, einsichtsvolle Maßregel, wie jetzt schon vor den Blattern, so vielleicht in Zukunft auch vor anderen Seuche schützen. Und während endlich der Philister noch lärmend fordert, daß man die Landesgrenzen absperre und die Häfen schließe, lasse man ihn mit Beschämung lesen, daß bereits muthige und mit ihren Aufgaben vertraute Aerzte und Executivbeamte – die Eclaireurs dieser Kriege – im Seuchengebiet und an dessen Umgebung thätig sind und hier erfolgreicher wirken, als es eine Armee von Paßwächtern und ein ebenso kostspieliger wie nutzloser Militärcordon an der eigenen Landesgrenze thun können.

Um diese Aufgabe zu lösen, bedarf eine Nation allerdings nicht nur jenes weisen, allzeit thätigen Generalstabes im Inneren, sondern auch eines gewissen Ansehens nach außen. Es handelt sich hier aber um politische Aufgabe im edelsten Sinne, und es muß in den meisten Fällen trefflicher und ruhmvoller erscheinen, das Vaterland vor einer heranrückenden Pest- oder Cholera-Epidemie zu behüten, als in der Südsee ein paar armselige Seeräuber zu züchtigen oder irgendwo eine Flottendemonstration zu machen. Siegt indeß die Wanderseuche, wie es oft geschah und auch in Zukunft jeweilig geschehen wird, so drängen sich neue Aufgaben in den Vordergrund; zunächst wohl die des Prüfens neuer Abwehrmittel, die der Ergänzung oder des Ersatzes der als nicht ausreichend erkannten Kampfkräfte. Häufig auch wird ein durch das Nationalunglück geschärfter Blick in das Innere des Staatsgetriebes wunde und faule Punkte entdecken, die sonst noch lange unbemerkt geblieben wären. Friedrich Wilhelm der Vierte that im Jahre 1848 die gewiß nach mehreren Seiten merkwürdige Aeußerung: „Die Cholera erreichte immer in den Jahren ihre größte Heftigkeit und Verbreitung, wo die meisten Eide gebrochen würden.“

Man soll uns nicht damit beruhigen wollen, daß die nie ganz erlöschenden Epidemien – Masern, Scharlach, Croup, Diphtherie, Keuchhusten, Unterleibstyphus – in den Culturstaaten fast nie über zehn Procent der Todesfälle bedingen, und daß die außerordentlichen Seuchen unserer Jahrhunderte sich mit Bruchtheilen von Procenten der Bevölkerung zu begnügen pflegen. Nur der Wunsch, zunächst das Dringendste verständlich zu machen, hat uns bisher davon schweigen lassen, daß nicht blos die gewöhnlich besprochenen Epidemien zu den vermeidbaren Volkskrankheiten gehöre, sondern auch viele Schul- und Berufskrankheiten, wie z. B. die Sommerkrankheiten der Neugeborenen und vor allem auch die Lungenschwindsucht. Einer ideellen Auffassung werden die Ziele eines staatlichen Gesundheitsamtes – denn dieses verglichen wir mit dem weisen, immer thätigen Generalstabe dadurch nur anziehender und dankenswerther erscheinen, daß sein segensreiches Wirken für das allgemeine Wohl auch in den epidemielosen Friedenszeiten ein sichtbares und lohnendes sein kann.




Ungleiche Seelen.

Novelle von R. Artaria.
(Fortsetzung.)
5.

„Es ist doch wunderbar,“ sagte Erich, als er spät am andern Abend nach einem unruhig durchschweiften Tag an Bartels’ Seite eilig die Treppen zum Zimmer der kranken Matrone emporstieg, „wochenlang rückt das Leben nicht von der Stelle und dann macht es sich plötzlich an einem einzigen Tage mit den widersprechendsten Empfindungen so nachdrücklich fühlbar, daß man –“

Er hielt inne und biß sich die Lippen.

Der Alte warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.

„Wirst wohl soviel Zeit von Deinem Minnedienst erübrigen können, daß Du die Frau da oben sterben sehen kannst,“ sagte er mürrisch. „Das Geschäft läßt sich nicht aufschieben. Und eine Nachtwache darf sie Dir wohl werth sein.“

Eine Nachtwache! Erich ballte krampfhaft die Hand; sein Herz hämmerte mit heftigen Schlägen; es war ihm verzweifelt zu Muthe. Von seinen Nächten, deren er gern manche um der Kranken und Ninettens willen durchwacht hätte, sollte er gerade diese einzige, ersehnte, unersetzbare hingeben, an der seine ganze Seele hing. Es war ihm, als müsse alles zu Ende sein, wenn ihn diese Stunde nicht an Leontinens Seite fand.

Aber die heißen Wellen seines Empfindens dämpften sich merklich, als die Beiden über die Schwelle des Krankenzimmers und in den Bannkreis des großen Räthsels traten, vor dem alles Irdische stille steht. Es war kühl und fast schon dunkel in dem großen Schlafgemach; allerhand seltsamer Hausrath stand darin gedrängt neben einander, alte schadhafte Prunkmöbel aus dem Vorderhaus mit verblaßtem Damast und geschwärzten Vergoldungen, dazwischen einfache Strohsessel und in der Ecke das große altersdunkle Himmelbett. Auf dem Lehnstuhl davor keuchten die halberstickten Athemzüge der armen gequälten Brust, die dort krumpfhaft nach Luft rang; Nina knieete im Schein der kleinen Lampe vor der Kranken und hielt sie verzweiflungsvoll in stützenden Armen aufrecht. Als müsse sie für die Mutter Luft schöpfen, so heftig und angstvoll hob und senkte sich ihr junger Busen, und ihre Augen standen voll Thränen, als sie jetzt den Kopf nach den Eintretenden wandte. Ein Blick voll leidenschaftlicher Beredsamkeit und stummflehender Bitte traf, Erich bis in’s Herz hinein; er eilte erschüttert näher, die abgezehrten Hände der Kranken mit den seinigen fassend.

Bei seinem Anblick ging ein Leuchten durch ihre Augen; sie versuchte, mit einem Verziehen der bläulichen Lippen, das Lächeln bedeuten sollte, zu verstehen zu geben, es sei nicht so arg, und litt es gerne, als Erich’s kräftige Arme sie empor und in eine bessere Lage hoben.

Nina, mit dem Hellsehen des Herzens, das ihrer liebevollen Natur in hohem Grade eigen war, und der sanften Grazie, welche Dienstleistungen in Liebkosungen verwandelt, ordnete rasch und geschickt

die Kissen, und schmeichelte der Mutter ein paar Löffel

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_484.jpg&oldid=- (Version vom 28.7.2022)