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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Das deutsche Reich und die öffentliche Gesundheitspflege.[1]

2. Die Bedeutung der Epidemien im modernen Staat.

Von Seiten Derjenigen, welche sich herausnehmen, ihren Göttern eine menschliche Sprache zu verleihen und sich von ihnen sagen zu lassen, was sie selbst am liebsten hören, wird die im Folgenden geltend zu machende Auffassung der Volksseuchen stets Angriffen und Zweifeln ausgesetzt bleiben. Wenn noch in den jüngsten Tagen ein so feiner und tiefer Denker wie Graf Moltke ernstlich Worte findet zur Stütze der Meinung, daß „der Krieg ein notwendiges Glied in der göttlichen Weltordnung“ sei, so unterliegt es keinem Zweifel, daß schwächere Köpfe in großer Anzahl sich noch heute bei dem Gedanken behaglich fühlen, daß auch die großen Volkskrankheiten Gottesschickungen seien, bestimmt, „die Welt nicht in Fäulniß gerathen, sie nicht im Materialismus sich verlieren zu lassen und die menschlichen Tugenden zu stärken“.

Wer aber das tausendfältige Elend einer längeren Epidemie jemals durchlebt hat, der mußte mit Trauer wahrnehmen, daß die sparsamen Tugendblüthen, welche durch diese Geißeln der Menschheit gezeitigt werden, vollkommen unter einer Masse schlimmster Leidenschaften ersticken; denn in den Tagen der Epidemie wächst die Eigensucht übermächtig, und es wendet sich der Nächste vom Nächsten, der ihm den Todeskeim zu überliefern droht, kalt und mit Grausen ab, oder er erhebt gar zur Abwehr gegen ihn die brudermörderische Hand.

„Laßt uns sorgen,“ so konnten sich die Regierungen aller Zeitalter nach dieser oder jener Epidemie zurufen, „daß die Ueberlebenden bald wieder zu Menschen werden.“

Trotzdem gehört das Aufrechterhalten der Meinung, daß die epidemischen Krankheiten direct göttlichen Ursprunges seien, nicht zu den Unbegreiflichkeiten, wenn man im Auge behält, daß es gewissen Verkündern angeblich göttlicher Weltordnungen von jeher mehr auf den Erfolg als auf den Beweis ihrer Behauptungen ankam. Die Staatenlenker älteren Stils konnten eben nur dieser einen Beschwörungsformel die Kraft zutrauen, aufgeregte Massen zu beruhigen und ein entsetzt aus einander fliehendes Volk zusammen zu halten. Wie in andern Fällen so unendlich oft, so bekleidete sich auch diesem inneren Feinde gegenüber die bankerotte Staatskunst mit dem Deckmantel der Religion.

Zürnende, beleidigte Götter mußten es sein, welche die menschenmordenden Seuchen auf lästig gewordene Völker herabsendeten; die gegen das Gebot der Priester und Propheten ungehorsamen Sterblichen waren selbst schuld daran, wenn der glühende Rachepfeil zugleich mit dem Frevler auch den Unschuldigen niederstreckte. Durch Buße, Umkehr und völlige Unterwerfung allein – so will es der Autoritätsglaube noch heute, wie zur Zeit der ägyptischen Plagen – wurde die Hoffnung gegeben, den göttlichen Zorn von sich und den Seinigen abzulenken.

So geängstigt, lernte der Mensch die ungeheuere Ungerechtigkeit des Massensterbens zwar nicht begreifen, aber doch ruhig dulden. Er begrub, was seines Lebens Freude gewesen war, und nagte an dem selbstsüchtigen, elenden Trost: „Wen's trifft, den trifft's.“

Auf die Dauer aber konnte die staatspriesterliche Weisheit sich doch nicht mit der Versicherung ganz abfinden, daß jener Wille, ohne welchen kein Sperling vom Dache und kein Haar vom Haupte fällt, nicht blos der Wille eines mächtigen, sondern auch der eines weisen und liebenden Wesens sein sollte.

Nun mußte das „böse Princip“, mußte der fratzenhafteste Fatalismus, der ganze astrologische Wust des Orients herbeigezogen werden, um den Widersinn mit dem Charakter absolut unabwendbarer, mystischer Naturerscheinungen zu umhüllen.

Dieses und jenes große Vieh- und Menschensterben war eingetreten, als Sonne und Mond sich verfinstert hatten; – böse Fieber entvölkerten ganze Inseln, während gleichzeitig ihre erloschenen Vulcane aus neuen Kratern zu arbeiten begannen; – der grause „schwarze Tod“ zog über die ganze alte Welt, als in China wochenlang die Erde gebebt und verderbenschwangere, giftige Dünste sich über Länder und Meere verbreitet hatten. Kometen und Meteore, vulcanische Erscheinungen, Stürme, Regengüsse und Flußaustretungen wurden mit größerer oder geringerer Genauigkeit gebucht und mit dem Ausbruche epidemischer Erkrankungen in unmittelbare Beziehung gebracht.

Wir müssen aber dabei dem Mißverständnisse vorbeugen, als sei mit dem Hinweise, daß die neuere Wissenschaft den Seuchen gegenüber ihr Hauptaugenmerk auf andere Punkte richtet, gleichzeitig auch die Bedeutungslosigkeit jener Naturvorgänge ausgesprochen. Noch lange wird die Entscheidung darüber ausstehen ob mit der Erforschung der uns vor Augen liegenden Verhältnisse des Kranken und seiner nächsten Umgebungen Alles erklärt sei, ob in dem Zusammenhange kosmischer Erscheinungen mit den Massenkrankheiten kein Korn objectiver Wahrheit gesucht werden dürfe.

Erst durch das im Zusammenwirken der Meteorologie mit der Medicin und der Landwirthschaft, durch die Ausdehnung der wissenschaftlichen Beobachtungsstationen, wie von Alex. von Humboldt sie für einzelne Zwecke begründet und durchgesetzt hat, über die ganze Erde erst durch diese und andere Mittel wird es künftigen Geschlechtern möglich sein, den ursächlichen Antheil, welchen die außerhalb des Menschen sich abspielenden Vorgänge etwa an der Entstehung der Epidemien haben, richtig zu würdigen

Das wichtigste Untersuchungsobject auf dem Gebiete der Epidemiologie bleibt aber einstweilen der Mensch als Einzelwesen und sein Zusammenleben in Genossenschaften. Die Frucht der Erkenntniß, daß in erster Reihe wir Erdbewohner selbst die Schuld um Ausbruch voll Massenkrankheiten tragen, reifte langsam, und der Boden, auf dem sie wuchs, wurde reichlich mit unschuldigem Blute gedüngt. Als den feindlichen Göttern und Götzen ihre unheimliche Macht entglitt, als der Mond und die Planeten, die Sonne und das Erdinnere nur noch einen bedingten Antheil an der Seuchenerzeugung haben sollten, da waren es zunächst die Brunnenvergifter und Beschwörer, die Hexen und Juden, die für Rinder- und Menschenpest, für Epidemien von Fiebern, Blattern und englischen Schweiß mit Leib und Leben zu büßen hatten. Es war ja durchaus staatsklug, gerade diese Theorie zu begünstigen den gehorsamen und gläubigen Theil der Menschheit, vor allem aber die Machthaber selbst von aller Mitschuld freizusprechen und dem mit dem Teufel im Bunde stehenden Gesindel um so eifriger und massenhafter den Proceß zu machen, als für manche etwas großartigere Epidemien die Zahl der Verdächtigten noch viel zu klein erschien. Besonders grell traten dergleichen Mißverhältnisse hervor zur Zeit von Kriegs- und Hungersnöthen. Mit dem Sprüchwort:

„Krieg, Pestilenz und theure Zeit,
Ist das eine da, ist das and’re nicht weit“ –

trösteten sich resignirt die Völker; Jahrhunderte hindurch fiel es Niemandem ein zu fragen, ob es sich hier um Ursachen und Wirkungen handelte, und ob der Krieg, der Hunger oder die an sie gebannten Seuchen mehr Opfer forderten

Aus der Neuzeit fehlen uns nun genauere Angaben über diese Verhältnisse nicht ganz, und sie lehren zunächst, daß es noch keinen Krieg gegeben hat, an dessen Zerstörungswerk die ansteckenden Wundkrankheiten und der Kriegstyphus, die Ruhr, der Skorbut nicht einen bedeutenderen Antheil genommen hätten als die raffinirtesten Verbesserungen der Feuerwaffen. Im Krimkriege verlor die französische Armee ein Drittel ihres Gesammtbestandes: von diesen 95,615 Mann, welche ihr Leben einbüßten, fielen nur 10,240 vor dem Feinde; etwa ebenso viele Verwundete erlagen in den Hospitälern; über 75,000 aber starben an epidemischen Krankheiten. Schreckenerregend ist auch noch das Zahlenverhältniß von 97,000 Todesfällen auf den Schlachtfeldern gegen 184,090 durch Seuchen und Krankheiten, wie es sich im amerikanischen Secessionskriege herausstellte. – Ist es aber Angesichts dieser Zahlen noch möglich zu leugnen, daß die Bedingungen derartiger Epidemien überwiegend menschliche sind, wenn wir erfahren, daß während unseres letzten französischen Feldzuges aus 17,572 vor dem Feinde gefallene und 10,710 an Wunden nachträglich erlegene nur noch 12,253 durch Krankheiten und Seuchen hingemordete Soldaten kommen? Hier liegen Beweise vor, daß ein Staat, dem seine Armee genügend viel werth ist, durch ein gutes Sanitätswesen die epidemischen Gräuel früherer Kriege wenigstens abschwächen, wenn auch leider nicht verhindern kann.

Noch viel versöhnendere Vorstellungen erregt uns die Thatsache,

  1. Vergleiche Nr. 25.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 483. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_483.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)