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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

fortgesetzte Erforschung des Lebens dieser Vögel gemacht habe: ich möchte aufmerksam machen auf die sich vielfach im Neste der Goldhähnchen findenden Pferdehaare. Diese schlingen sich nämlich um Hals und Flügel der Jungen, und Erdrosselung ist nicht selten die Folge. Das nur nebenbei!

Wenn es Herbst geworden ist und der Wald in mannigfachem Colorit prangt, dann kommt in die vereinigten Familien der Hauben- und Tannenmeisen ein rastloseres, ungestümeres Leben. Wohl behaupten sie noch immer ihre Lieblingsplätze innerhalb eines gewissen abgegrenzten Districtes, aber wir nehmen täglich mehr regelmäßige Streifzüge der Gesellschaft wahr, als dies bei den Paaren und Familien im Sommer der Fall gewesen, und oft sind sie zu ganz bestimmter Tagesstunde an demselben Orte anzutreffen.

Beide Meisenarten werden während der rauhen Jahreszeit zur Ausbeute der samentragenden Zapfen der Nadelbäume bewogen, was die Thierchen auch aus den zusammenhängenden Nadelholzbeständen zu nicht fernen, einzeln stehenden kleinen Nadelholzwäldern führt, die dann täglich wiederholt durchstreift werden. Nur flüchtig durchziehen die Haubenmeisen Laubholz oder gemischte Bestände, und überfliegen sie gar eine kleine Blöße – größere vermeiden sie ganz – so geschieht es sichtlich ungern und eiligst.

Bei Ereignissen, welche in das Vereinsleben der befiederten Gesellschaft eingreifen, macht sich sofort allgemeine Aufregung geltend; die vereinigte Genossenschaft zeigt alsdann nicht blos durchgehendes Verständniß, sondern auch übereinstimmende Gemüthsaffection. Wie die Wetterlaune, die rasch wechselt, so ist auch die Vogellaune, eben heiter, im nächsten Augenblick getrübt, unmittelbar daraus wieder gehoben.

Allgemeines gegenseitiges Verständnis; ist in Tönen und Geberden ohne Frage in der Gesammtheit vorhanden, und zwar nicht blos in Bezug auf Schrecktöne und Zeichen, sondern auch nach anderer Seite hin: sie mahnen einander zum Ausbruche, laden zur Rast ein, benachrichtigen sich gegenseitig, wenn eine erfreuliche Entdeckung gemacht wird oder eine Erscheinung Mißtrauen, Neugierde oder Lust zur Neckerei und Verfolgung erweckt.

So erregt ein urplötzlich dahersausender Sperber Schrecken und Angst; kopfüber stürzen die Hauben- und Tannenmeisen mit scharfen Schrecktönen in das Dunkel der Nadelholzzweige, und mit raschem Einschwung verbergen sich die angsterfüllten Goldhähnchen unter einem weitragenden Zweigdache. Doch kaum ist die Gefahr vorüber, so kommen auch schon wieder die vergeßlichen sanguinischen Kinder der Gegenwart zum Vorschein, und es wird der unterbrochene sorglose Wandel von Ast zu Ast fortgesetzt; das Hämmern der Schnäbel ertönt wieder, und die friedlichen Laute der Behagen verkündenden Vogelsprache zeugen von der wiedergekehrten glücklichen Gemüthsstimmung.

Mag auch der gefürchtete, Entsetzen und Tod bringende Räuber einen Gefährten aus den Reihen der Ahnungslosen in dem würgenden Fang davontragen, der Eingriff wird im Augenblick der That zwar mit Theilnahme an dem Wehgeschrei des Unglücklichen begleitet, aber dem Grabgesange folgt unmittelbar das „Gaudeamus igitur“.

Karl Müller. 


Vater und Sohn.
Von Heinrich Kruse[1].

Arglos saß er, ruhmbedeckt als Sieger,
In der Kampfgenossen frohem Kreis.
Sieh, da naht sich ihm ein alter Krieger,
Flüstert ihm in’s Ohr, verwirrt und leis.
„Laut! Was hast Du, Friedrich, mir zu sagen?“
„Ich verschwieg’ es General, Euch gern,
Doch ich kann allein es nicht mehr tragen:
Sie vermissen unsern jungen Herrn.“

Und er hört nicht mehr den Jubel, schreitet
Blaß und schweigend durch den lauten Schwarm,
Sprengt, vom treuen Diener nur begleitet,
Auf das Schlachtgefild in stummem Harm.
Ruft den theuren Namen immer wieder.
Lauscht umsonst; denn keine Antwort schallt.
Aechzt es wo und steigt er hoffend nieder,
Ist ihm fremd die blutende Gestalt.

So verstrich die Nacht, und wieder röthet
Sich der blasse Streif im Osten schon;
Endlich, von Ermattung fast getödtet,
Fand er, ach, als Leiche! seinen Sohn.
Wie vom Blitz getroffen stürzt’ er nieder,
Und er weinte nicht, er schrie vor Schmerz,
Küßte seinem Knaben Wang’ und Lider,
Und ihm brach beinah das tapf’re Herz.

„Daß Gott walte“ sprach der fromme Alte,
Der schon Freund ihm mehr als Diener war.
Zwar er schluchzte selbst, doch sprach: „Gott walte!“
Das war Trost für Beide, wunderbar.
Ja, in einer solchen schweren Stunde
Ist der Glaube unser einz’ger Stab.
Schweigend blickt der Feldherr in die Runde,
Holt ein Grabscheit von dem nächsten Grab.

„Kann ich nichts mehr, nichts mehr thun auf Erden
Für den Liebling, o, so soll er doch
Nur von meiner Hand begraben werden;
Diese letzte Pflicht erfüll’ ich noch.
Camerad aus alten guten Zeiten,
Hilfst Du mir?“ Der drückt ihm stumm die Hand,
Und an’s Werk die ernsten Männer schreiten,
Deren Herzen Zagen nie gekannt.

„So! Wir haben tief genug gegraben.
Camerad, nun naht der Augenblick,
Wo Du Nachsicht mit dem Freund mußt haben,
Wenn ihn überwältigt sein Geschick. –
Eh’ wir in Dein frühes Grab Dich legen,
O, mein einz’ger heißgeliebter Sohn,
Diesen Thränenstrom und meinen Segen
Nimm als aller Lieb’ und Treue Lohn!

Ja, das sind die guten, lieben Züge,
Die uns Eltern in der Wieg’ entzückt,
Welche, nie entstellt durch Haß und Lüge,
Lebenslang unsäglich uns beglückt.
Mochten noch so sehr ihn Alle loben,
Still bescheiden ging er vor sich hin,
Aber bei der Wälschen frechem Toben,
Schwang sich sternenhoch empor sein Sinn.

Für sein Vaterland das Leben wagen
Wollt’ er und beschützen unsern Rhein,
Doch der Mutterblick wird mich verklagen,
Schuld an unsers Lieblings Tod zu sein.“
„Hat denn Eure Gattin nur verloren,“
Spricht sein Camerad, „ein theures Kind?
Manche Wittwe, die umsonst geboren,
Weint um Mitternacht die Augen blind.“

„Wär’ es das nur!“ hört man leis ihn klagen,
„Wär’ es das nur!“ — „Und was quält Euch noch? —“
„Freund, was Gott uns schickt, das laßt sich tragen,
Eigne Schuld drückt uns als schlimmstes Joch.
Sechszehn Jahr’ erst zählt er, und zum schweren
Dienst der Waffen war er noch zu schwach.
Nein, ich durft’ ihm nicht den Wunsch gewähren,
Doch dem Krieger-Ehrgeiz gab ich nach.

‚Ferme Moscou zu stürmen! Alle rücket
Aus im Laufschritt — falle, wer da fällt! —
Bis Ihr Eurem Feind in’s Auge blicket!
Dann, hurrah! das Bajonnet gefällt!‘
So befahl ich meinen Kriegerschaaren,
Ich, der Feldherr. Und in vollem Lauf
Stürmten sie, nicht achtend der Gefahren,
In den ersten Reih’n mein Sohn, hinaus.

Doch er kennt nicht Kriegsgebrauch und Regel,
Sucht nicht Deckung, wie er vorwärts dringt.
Aufrecht steht er, als, ein Flammenkegel,
Die Granate über ihm zerspringt.
Ich, ich führte, daß er Ruhm erwerbe,
Unsern Knaben in die Männerschlacht.
Ja, die ganze Zukunft war sein Erbe,
Und ich hab’ ihn, ich, darum gebracht.“

Und der greise Vater sinkt zur Erde.
„O, verzeihe mir und sprich, mein Sohn,
Daß ich nicht des Wahnsinns Opfer werde,
Mir verzeihend, ach, nur einen Ton!“
Armer Greis! Schon lange mußt’ er irren
Ohne Nahrung durch das Todtenfeld,
Bis sich seine Sinne jetzt verwirren
Und er auf das Grab bewußtlos fällt.

Auf dem Schlachtfeld, wo in tausend Schmerzen
Sich die Menschheit windet und verzagt,
Gleicht doch nichts dem armen Vaterherzen,
Das verzweiflungsvoll sich selbst verklagt.
Da, als Ohnmacht ihn und Schlaf begraben
Und dem Erdenjammer hat entrückt,
Ist es ihm, als hört’ er seinen Knaben,
Der mit sanftem Trost ihn hold erquickt:

„Laß nicht Deine lieben Augen thauen,
Bester Vater! Betend vor der Schlacht,
Hab’ ich mit dem kindlichsten Vertrauen
Mich dem Herrn der Schlachten dargebracht.
In den Tod hast Du mich nicht gesendet;
Denn Du lenktest nicht das Fluggeschoß.
Schmerzlos hab’ ich, rasch und süß geendet,
Da mein Blut für Deutschlands Rettung floß.

Eben spielt’ ich noch der Knaben Spiele,
Warf den Ball und tummelte das Roß,
Rang mit Freunden oder schwamm zum Ziele,
Kannte nicht den Krieg und sein Geschoß.
Und nun ruh’ ich schon im Heldengrabe;
Auf dem Sieg’sfeld schlummert mein Gebein,
Und mir wurde, was gewünscht ich habe,
Denn ich hielt, auch ich! die Wacht am Rhein.“

  1. Wir weisen unsere Leser bei dieser Gelegenheit auf zwei neuere poetische Veröffentlichungen des allbekannten, geist- und gemüthsvollen Autors hin: auf das der Geschichte der Hansa entnommene kraftvolle Drama „Raven Barnekow“ (Leipzig, Hirzel) und auf die zum Theil in unserem Blatte (Jahrgang 1873, Nr. 3 und Nr. 16) zuerst abgedruckten humor- und poesievollen „Seegeschichten“ (Stuttgart, Cotta). Heinrich Kruse’s eigenartiges Talent zeigt sich in diesen beiden Werken von seinen glänzendsten Seiten und empfehlen wir dieselben daher hiermit der Beachtung unserer Leser auf das Wärmste.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_479.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)