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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Am besten ist’s, man fragt nicht, was man ißt oder gegessen hat; denn Viele haben solche Neugierde sofort gebüßt und hinfort kein chinesisches Gericht mehr angerührt. Wein würzt das Mahl; Thee schließt es. –

Die Chinesen sind liebenswürdig, gastfrei und, so lange sie nicht mit Europäern zusammenkommen, auch ehrlich und vertrauensvoll; wie naiv sie übrigens trotz der russischen Cultur sind, dafür nur ein Beispiel: Vor Kurzem schwatzte ein Russe einem Chinesen ein Handelsbillet sub Nr. 15,896, das schon längst abgelaufen war, als russischen Staatsschein auf obige Summe für 15,000 Rubel auf; der Gauner machte sich natürlich dann schnell aus dem Staube. Der arme Betrogene, Scha-lan-dhai, bat mich aber bei meiner Abreise, ich möchte doch dem russischen Kaiser sagen, daß er sein Geld noch immer nicht bekommen habe. O, du liebe, heilige Unschuld! – Bei den Handelsgeschäften mit den Russen auf Credit nimmt keine Partei eine Handschrift, sondern es genügt, daß Jeder sich in seinem Buche das Credit oder Debet notirt. Den Tag über geht der Kaufmann seinem Geschäfte nach, besucht die Comptoirs in Kiachta und fragt an, wie die Preise stehen; zu Mittag tauscht dann das ganze Personal eines Magazins (das sich wohl auf zwanzig Personen beläuft) das Erhorchte aus und sucht es zu verwerthen. Naiv ist der Chinese auch in der Art, wie er die dort lebenden Europäer mit seinen Besuchen beehrt. Er besucht eben jeden Europäer, ob bekannt oder fremd, und thut, als ob er bei ihm zu Hause wäre. Wird Einer mit Punsch regalirt, so hast du ihn als täglichen Gast im Hause. Findet er Niemand daheim, und hat er Zeit, so legt er sich zu einem Schläfchen im fremden Hause hin. Im Plaudern wird er oft lästig durch seine Wißbegierde, deren Fragen kein Ende haben, und doch ist der Refrain nach allen Mittheilungen: „In Peking haben Sie das Alles noch viel besser und schöner.“

Seinen Zopf hält der Chinese über Alles werth; denn am Zopfe ihn fassend schleudert ihn der liebe Gott in den Himmel, also: Zopf verloren – Himmel verloren. Am bereits erwähnten Himmelfahrtstage der Seelen werden die papiergeschnitzten Conterfeis der Verstorbenen verbrannt, geschmückt mit ebenfalls papiernen Emblemen ihres irdisches Berufes.

Die Gegend bei der Stadt Mai-ma-tschin ist öde und trostlos – kein Baum, kein Wasser! Die Wälder sind auf achtzehn bis zwanzig Werst ausgehauen und die Bäche in Folge dessen versiegt. Die Bodenbeschaffenheit fördert die Ziegelbrennerei, die recht schwunghaft betrieben wird, sodaß die russischen Nachbarstädte Kiachta und Troitzkosawsk aus Mai-ma-tschin ihren Ziegelbedarf beziehen, und an Handwerkern findet man in der Stadt viele Tischler und Schneider, die äußerst accurate Arbeit liefern; so gab ein Kaufmann dem chinesischen Schneider einen alten geflickten Rock als Modell zu einem neuen, war aber wenig erfreut, als dieser letztere auch alle sorgfältig aufgesuchten Löcher, offen und geflickt, genau wie der alte Rock, aufwies.

Der Dsargutschei wird auf drei Jahre nach Mai-ma-tschin geschickt und geht von dort wohl nie ohne Vermögen weg; denn von jedem Kauf und Verkauf erhebt er seinen Antheil, der gern gegeben wird, damit man größeren Erpressungen entgeht. Um neun Uhr Abends ertönt ein Kanonenschuß, das Zeichen, daß der Herr schlafen geht; dann werden die Thore der Stadt geschlossen, und Alles muß sich zur Ruhe begeben.

Genügsam und arbeitsam, verdient sich der Chinese hier im Norden ein kleines Capital, um dann endlich zu seiner Familie in die sonnige Heimath zurückzukehren; die Bevölkerung wechselt also ziemlich oft, manch’ Einer kehrt aber nicht zu den Seinen zurück; denn die nächtlichen Raufereien kosten manchem das Leben, die Mörder werden aber nie gefunden, und da den Getödteten meist Goldschmuggelei nachgesagt wird und diese streng verboten ist, so lassen die Chinesen denn auch die Todten sanft ruhen. Der Dsargutschei kommt wohl mit großer Escorte in seinem Galawagen auf das russische Polizei-Amt, allein der Mörder findet sich eben nicht; es werden ihm viele Complimente gemacht – aber es hilft nichts.

Still und eintönig verläuft das Leben in der Männerstadt; nur das neue Jahr bringt Bewegung und Festjubel. Eine Woche vor Anbruch desselben verschwindet der Stadtgott, um droben seinen Jahresbericht abzustatten, und am Sylvesterabend zieht die Bevölkerung aus, um den Gott zu suchen, der ungesucht nicht zurückkehrt. Anspruchsvoll ist er übrigens nicht; denn oft findet man ihn in einem Düngerhaufen versteckt; in vollem Jubel wird er nun heimgeholt, und die ganze Stadt wirft sich in das schönste Festkleid. Eine unzählige Menge Laternen und papierne Fähnchen schmücken Häuser und Straßen; überall prasselt Feuerwerk, und endlich setzt sich der Festzug in Bewegung. Die ganze Bevölkerung, voran die Schauspieler, geführt vom Dsargutschei, zieht in alle vornehmen Häuser zur Gratulation, die natürlich beim Champagner entgegengenommen wird. Das ist das große Laternenfest, auf welches man sich das ganze Jahr lang freut; eine fürchterliche Musik von vielleicht sechszehn Instrumenten wüthet während dieser Tage in jedem Hause, bis nach Ablauf des Jubels wieder die alte Monotonie beginnt. Ich fragte meine chinesischen Freunde einmal, warum es bei ihnen stets so still und langweilig sei: „Chosajuschki netu!“ war die Antwort in gebrochenem Russisch; also auch die Chinesen meinen: „Ohne Damen kein Vergnügen!“

Hermann Köcher.





Friedrich von Raumer.

Von Fr. Helbig.


Als vor acht Jahren die Nachricht in die Oeffentlichkeit drang, Friedrich von Raumer sei gestorben, fragte sich gar Mancher verwundert: „Wie? Der weilte noch unter uns Lebenden? Wir hielten ihn für längst gestorben.“ Der einst gefeierte, vielgenannte Geschichtsschreiber der Hohenstaufen, der mit dem Eintritt in sein zehntes Jahrzehnt das gewöhnliche Maß eines Menschenlebens weit überschritt, hatte sich selbst überlebt; er, der Historiker, war schon zu Lebzeiten zur Historie geworden. Nun sind vor wenig Wochen hundert Jahre seit seinem Eintritt in die Welt verflossen – Raumer wurde den 14. Mai 1781 zu Wörlitz bei Dessau geboren – und damit kommt ein alter schöner literarischer Brauch zu seinem Rechte, der an diesen Säculartagen einen frischen Immortellenkranz auf die Gräber unserer großen Todten zu legen gebietet und ihre Schatten noch einmal lichtvoll zur Erde zurückführt. Und auch Raumer gehört zu den Großen unserer Nation. Hätte sein Leben auch weiter keinen Inhalt gehabt, als daß er darin seine Hohenstaufen geschrieben, so würde er sich schon damit allein den ewigen Dank der Nation verdient haben. Sie markirten nicht blos eine ganz neue Phase der Geschichtsschreibung, sie waren eine große patriotische That, welche in den Zeiten des tiefen Niedergangs unseres nationalen Lebens die Liebe zum Vaterlande, den verlorenen Glauben an seine Macht und Größe und den Drang nach ihrer Erneuerung wieder in’s Wachen rief. Aber der Thaten und Vorzüge des Mannes sind auch noch viele andere.

Raumer’s Leben war von vornherein nicht darauf angelegt, in der stillen Stube eines gelehrten Forschers auszulaufen. Der praktische Sinn seines Vaters, eines thatkräftigen Landwirths, wies dasselbe in die gemessenen Bahnen des praktischen Staatsdienstes, aber die universelle Natur des jungen Raumer zeigte sich schon auf der Universität, wo er, in Halle und Göttingen, neben der Jurisprudenz auch noch Mathematik, Physik, Chemie, Botanik, Leibniz-Wolf’sche Philosophie, mit besonderer Vorliebe aber Geschichte trieb und auch den Musen der Tonkunst seine Neigung zuwandte. Doch bestand er nach Ablauf seiner drei akademischen Lehrjahre und nach einem weiteren im Dienste der Landwirthschaft verbrachten Halbjahre sein juristisches Examen mit Auszeichnung.

Bald nach seinem Eintritte in den Staatsdienst nahm er als Protocollführer des Kriegsraths von Bassewitz an einer wichtigen staatsrechtlichen Expedition Theil; es war dies die amtliche Besitzergreifung des zur Entschädigung für abgetretene Gebietstheile am linken Rheinufer an Preußen gefallenen Eichsfelds. Er gewann auf diesem durch eine festgehaltene Eigenart seiner Bewohner ausgezeichneten Landstriche interessante Einblicke in allerlei Verhältnisse, die er in seinen erst in spätem Alter (1861) geschriebenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_466.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2022)