Seite:Die Gartenlaube (1881) 451.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

während im letzten Jahrhundert die Vulpius und nicht die Goethe buchhändlerische Triumphe feierten und auch noch vor wenigen Jahrzehnten die Colportageromane von Retcliffe eine wohl selbst von den „Ahnen“ nicht erreichte Höhe des Absatzes fanden.

Was mein eigenes Urtheil über „Die Ahnen" betrifft, verehrte Freundin, so halte ich das Werk nach wie vor für eine Reihe fein und geschmackvoll ausgeführter Culturbilder. Bei seinen salto mortalis über die Jahrhunderte hinweg kann man ihm den Titel „Roman", den es in Anspruch nimmt, nicht zugestehen; die Verknüpfung der einzelnen Erzählungen wird doch nur durch den lockeren Faden der Familienherkunft bewirkt und außerdem durch die unleugbare Familienähnlichkeit der jugendlichen Helden illustriert. Es sind Hauptepochen. deutscher Entwickelungsgeschichte, in welchen der Autor diese Helden eine Rolle spielen läßt: so in den vier letzten Bänden das Reformationszeitalter, die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Zopfzeit, unser Jahrhundert bis zur Märzrevolution.

Gustav Freytag ist ein vorzüglicher Genremaler: über den Bereich des Genrebildes gehen alle diese Erzählungen nicht hinaus. Sie werden mich auf die Schlömp'sche Freytag-Gallerie verweisen, auf diese Bilder, in denen ausgezeichnete Künstler in großem Stil auch „Die Ahnen“ illustrirt haben. Gewiß, Ingo und ähnliche Gestalten zeigen hier den Wurf der geschichtlichen Freske, und die geschilderten Ereignisse selbst widersprechen ja solcher Auffassung nicht, doch erst bei der Uebertragung in das Gebiet der malenden Kunst kommt sie zur Geltung, nicht in der Darstellung des Dichters selbst: diese ist durchaus genrebildlich, und nur ganz ausnahmsweise erhebt sie sich mit größerem Zuge und Schwunge über dieses Niveau.

So ist's auch mit den geschichtlichen Persönlichkeiten von Bedeutung, welche in den Rahmen des Cultur- und Genrebildes eintreten; sie müssen den historischen Cothurn draußen lassen. Mit der meisten Vorliebe ist im Grunde der deutsche König Heinrich der Zweite im „Rest der Zaunkönige" geschildert; schon der Hohenstaufenkaiser Friedrich der Zweite tritt nur anfangs als Freigeist der Kirche gegenüber bedeutsam hervor; später verschwindet sein Bild in einem Gewirre culturgeschichtlicher Arabesken In „Markus König" erscheint Luther am Schluß, ohne jede geschichtliche Bedeutung, als Genrebild, aber nicht entfernt von der Lebensfrische des Goethe’schen Bruders Martin: im Grunde als ein langweiliger Nachmittagsprediger. Hier blieb die Erzählung weit hinter dem Essay zurück: denn wie frisch und bedeutend hat Freytag den Luther in seinen culturhistorischen Bildern geschildert! In der Erzählung „Der Freicorporal bei Markgraf Albrecht“ treten sowohl der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm der Erste wie auch der große Friedrich auf, doch nur als episodische Figuren, der letztere in einem bengalisch beleuchteten Schlachttableau am Schluß, und in der letzten Erzählung „Aus einer kleinen Stadt“ fährt Napoleon in einem Schlitten vorüber und der große Kaiser erscheint als der Held einer ganz kleinen Anekdote.

Selbst der Romandichter, geehrte Freundin, darf namhafte geschichtliche Persönlichkeiten nicht in den Mittelpunkt seiner Dichtung stellen, noch weniger der Novellist, und hierzu hat Freytag seinen Tact bewiesen. Nur fehlt ihm die Gabe, mit wenigen Zügen einem Charakter geschichtliche Größe und Bedeutung zu geben; er skizzirt als Genremaler. Hierzu kommt, daß er die Handlung mit Vorliebe in den verlorensten Winkeln der Weltgeschichte spielen läßt; so erläutern uns Begebenheiten und Zustände in Thorn an der Weichsel das Reformationszeitalter, und das vorletzte Jahr des erlöschenden Dreißigjährigen Krieges, das an großen Männern und Ereignissen gleich arm war, soll uns ein Bild dieser Epoche geben.

Die Kupferstichmanier der Freytag’schen Darstellung läßt an Feinheit und Sauberkeit nichts zu wünschen übrig, aber bisweilen wird uns doch dabei kühl bis an’s Herz heran, und die vornehme Kühle geht hier und dort in ertödtende Nüchternheit über. Wenn Freytag’s Muse schalkhaft lächelt, hat sie einen gewinnenden Reiz; einige Blüthen köstlicher Naivetät finden sich zerstreut in diesen Erzählungen, und hier und dort schlägt auch die echte Poesie ihr sanftes Auge auf.

Den Preis unter den einzelnen Erzählungen verdient wohl „Das Rest der Zaunkönige"; die Liebesscenen zwischen Imo und Hildegard sind von besonderer Anmuth: sowohl die Scene in der Halle des Grafen Gerhard, wo die beiden Liebenden ihre lateinischen Studien im Dienste Amor’s verwerthen, wie auch diejenige unter der Sommerlinde auf der Idisburg und die dritte Begegnung der Liebenden im Getümmel des Kampfes. Einzelne Stellen, wie der Streit Imo’s mit seinen Brüdern, haben einen Aufschwung, der sich sonst in dem Cyclus dieser Erzählungen selten wiederfindet. „Ingo“ hat eine gewisse altertümliche markige Färbung; leider aber ist die Erzählung entstellt durch häufige grillenhafte Manierirtheit der Darstellung, durch ein Deutsch, das in Deutschland auch im grauen Alterthum niemals gesprochen worden ist. „Die Brüder vom deutschen Hause“ sind im Ganzen unerquicklich; für die Romantik der Kreuzzüge fehlt der Freytag’schen Muse das rechte Organ, und nirgends mehr als in dieser Erzählung sind die Motive der Hauptbegebenheiten so versteckt unter dem Blätterwerk der genrebildlichen Arabesken wie hier; man muß nachblättern, um den Zusammenhang aufzufinden, und jeder Antheil in der Handlung, jede Spannung ist ein Ding der Unmöglichkeit. „Markus König“ enthält einzelne lebendige Schilderungen, einige drollige Genrebilder, auch ein paar anmuthige Liebescenen. Doch die Handlung verläuft gegen den Schluß hin in’s Breite und fesselt die Theilnahme nicht mehr. Die beiden Erzählungen: „Die Geschwister", sind wohl am flüchtigsten gearbeitet; sie erinnern, trotz der vornehmen Feinheit des Freytag’schen Talentes, an Tromlitz und Blumenhagen. Das Colorit für den Mysticismus und seine Anhängerinnen, für die Hexenprocesse und ähnliche Vorgänge ist lange nicht tiefdunkel genug; es sind trockene „Geschichtsklitterungen“, die keine Stimmung hervorrufen. In die zweite Erzählung ist zwar manche erheiternde Anekdote aus der Zopfzeit verwebt, doch ist auch hier die Mischung des Hochtragischen mit dem Possirlichen einem einheitlichen Gesammteindruck hinderlich.

Der Schlußband der „Ahnen" enthält die Erzählung. „Aus einer kleinen Stadt“, die eigentlich wiederum aus zwei Erzählungen besteht: aus den Lebensläufen des Vaters und dem des Sohnes, welche natürlich beide der Familie König angehören. Der Vater, ein Arzt in einer kleinen schlesischen Stadt, ist ein wackerer Patriot zur Zeit der Franzosenherrschaft; er betheiligt sich an den Kämpfen gegen dieselben sowohl bei den Glätzer Freicorps, wie auch später in den Freiheitskriegen, und erlebt mancherlei Fährnisse und Abenteuer, bis er das geliebte Mädchen heimführt, das aus Dankbarkeit sich einem französischen Office verlobt hatte, durch den sie vor seinen wilden Banden beschützt worden war. Die Schilderungen des Kleinlebens in dem schlesischen Städtchen in Friedens- und Kriegszeiten, der einzelnen Charaktere, wie des jeanpaulisirenden Einnehmers und des munteren Edelfräuleins, sind durchaus ansprechend und bestechen durch ihre ungezwungene Natürlichkeit, und von wahrhaft poetischer Schönheit ist die Beschreibung der nächtlichen Wanderung Henriettens, die ihren Geliebten vor einem Ueberfall durch die Franzosen warnen will.

Der Sohn dieses Doctor König, Victor, führt ein flottes Studentenleben, geräth in Theaterkreise, verliebt sich in eine Schauspielerin, duellirt sich mit einem Nebenbuhler, stürzt sich in den Trubel der Märzrevolution, heirathet ein adeliges Fräulein und wird Journalist von reinem Blut wie Bolz, der Lieblingsheld Freytag's. Man dachte anfangs daran, die Ururenkel Ingo's auf deutschen Thronen zu suchen, und war nicht wenig überrascht, den letzten Sprößling des bärenhäutigen Thüringers auf einem Redactionsbureau zu finden; ja man wollte sogar in seinen Zügen eine gewisse Aehnlichkeit mit der Physiognomie des Redacteurs der „Grenzboten" entdecken und in dem schlesischen Städtchen die gute Stadt Kreuzburg, die Geburtsstadt des Dichters, obschon diese in der Wasserpolakei gelegene Ortschaft von der Aussicht auf das Riesengebirge, die das Städtchen der Erzählung genießt, fast durch die ganze Breite der Provinz Schlesien abgesperrt ist.

Dieser Schlußband hat jedenfalls einen frischeren und wärmeren Ton, als die letzten vorangehenden Bände; auch hat die Handlung eine gewisse novellistische Spannung, wenn sich diese auch auf zwei Novellen vertheilt. Es werden Knoten geschürzt und gelöst, und das ist in vielen früheren Erzählungen nicht der Fall. Auf den „Ahnen", wie auf allen Schöpfungen Freytag's liegt eine sonnenhelle Beleuchtung, das Licht des Optimismus: ein culturgeschichtlicher Novellencyklus muß uns zwar durch manche düstere Epochen führen, und es giebt ja keine Epoche, in welcher Jammer und Noth der Menschen sich nicht sichtbar und vernehmbar gemacht hätten; auch Freytag's Muse schildert uns bei ihrer Wanderung durch die Jahrhunderte viel Peinliches und Schreckliches, aber sie erzählt es nur wie die Theoretik; sie verweilt nicht dabei mit einer sich in diese Schrecknisse

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 451. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_451.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)