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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

an mehreren Stellen festlich begangen hat. An diesem Tage, dem 6. Juni dieses Jahres, fanden im Krystallpalast und in Chesterfield festliche Ovationen zu Ehren Stephenson’s statt; die bedeutendste Feier aber wurde in dem nur acht Meilen von Wylam entfernten Newcastle, der Hauptstadt von Northumberland abgehalten, wo noch jetzt Stephenson’s Maschinenfabrik fortblüht. Aus allen Theilen Northumberlands, Durhams, Cumberlands, Yorkshires und Südschottlands strömten vom frühen Morgen an zu Fuß und zu Pferde, mit Dampfboot und Eisenbahn ungezählte Schaaren, meistens Arbeiter, in die mit Masten und Kränzen reich geschmückte Stadt. Die meisten Gruben und Fabriken hatten die Arbeit eingestellt, und Stephenson’s Denkmal war mit Pflanzen und Blumen umgeben. Während sich ein fast drei Meilen langer Zug von Pferden und Wagen durch die Straßen bewegte, wurde eine Versammlung in Bathlane abgehalten, in welcher beschlossen wurde, das Andenken Stephenson’s auf eine würdige, in die Zukunft wirkende Weise zu ehren. Es wurde nicht an die Errichtung eines Denkmals, etwa in Wylam, gedacht. Man erkannte richtig, daß es wirksamere Mittel giebt, um der Bedeutung dieses großen Mannes in dankbarer Gesinnung gerecht zu werden. In einer schwungvollen Rede, die den lebhaften Beifall der Versammlung fand, zeichnete der Vorsitzende Herr Cowen ein Bild Stephenson’s und schlug vor, eine Reihe von Stipendien für bedürftige und tüchtige junge Männer zu gründen, welche sich dem Studium der Mechanik widmen wollten, was allseitig genehmigt wurde.

Tausende von Menschen umdrängten um diese Zeit den Centralbahnhof, in dessen Rangirgeleisen eine Reihe von Locomotiven aufgestellt war, die vor fünfzig Jahren, in der Kindheit des Eisenbahnwesens, benutzt worden waren. Kurz nach acht Uhr verließ ein eigenartiger Zug die Station. Er bestand aus sechszehn mit einander verbundenen Locomotiven neuester Construction die von den großen Eisenbahngesellschaften gewissermaßen als Vorsteher des modernen Eisenbahnwesens nach Newcastle geschickt worden waren. Um neun Uhr brachte ein Zug den Bürgermeister und die städtischen Behörden von Newcastle, sowie Ingenieure vermiedener Linien, mehrere Parlamentsmitglieder und fremde Gäste nach Wylam. Hier stiegen die Herren aus und gingen zu Fuß nach dem wohlerhaltenen Häuschen, in welchem Stephenson's Wiege stand. Es ist eine echt englische einstöckige Cottage mit einem breiten Fenster zu beiden Seiten der Hausthür und zwei kräftigen Schornsteinen an den Enden der Dachfirste. Der Bürgermeister pflanzte einige Schritte vom Hause entfernt einen Eichenschößling in den Grund und sagte, er hoffe, daß, wenn das zweihundertjährige Geburtsfest des großen Todten gefeiert werde, das Volk unter dem zu einem weitschattenden Eichenbaume emporgewachsenen Schößling sich der Gefühle der Dankbarkeit und Verwunderung der anwesenden Festversammlung erinnern werde. Wir erlauben uns zu der Rede hinzuzufügen: daß nach hundert Jahren das Volk noch von den nämlichen Gefühlen beseelt sein wird, ist möglich, aber es bleibt doch ein seltsamer Zufall, daß wenige Wochen vor dem 6. Juni 1881 die erste elektrische Eisenbahn eröffnet wurde; hierin liegt vielleicht der Keim zu einer bedeutsamen Concurrenz des Stephenson’schen Werkes, und hundert Jahre sind für die Entwickelung menschlicher Erfindungen eine lange, oft welterschütternde Spanne Zeit. Wird nach hundert Jahren Stephenson der Mann des Tages sein, wie heute? Wer weiß es?

Als die Gesellschaft von Wylam nach Newcastle zurückkehrte, formten sich ungeheure Massen - man schätzt sie auf 50 bis 60,000 Menschen welche sich auf zwei Wegen nach dem „Town-Moor", einer weiten Wiese vor der Stadt, bewegten. Hier waren drei Gerüste errichtet. Um jedes drängte sich eine zahlreiche Menge, je nachdem sie „Brutus oder Mark Anton hören“ wollte; denn von jeder wurden Stephenson’s Leben und seine Verdienste in langer Rede gewürdigt. Nach der Rückkehr der Menge in die Stadt füllten sich die Räume der „Literary and Philosophical Society“ stärker. Hier war eine fast vollständige Sammlung der meisten das Eisenbahnwesen betreibenden Modelle in ihrer historischen Aneinanderfolge seit dem ersten Versuche Murdoch’s bis zur Gegenwart aufgestellt. Am Abend zogen viele Festheilnehmer noch einmal zur Stadt heraus, diesmal nach „Leaze’s Park", welcher an „The Town Moor" angrenzt und ehemals einen Theil desselben bildete. Ein großes Feuerwerk und ein öffentliches Concert nahmen Augen und Ohr gefangen, und während die Menge sich den Genüssen des Schauens und Hörens hingab, versammelten sich etwa 300 Heeren in den „Assembly Rooms“ zu einem Festessen, bei dem noch einmal der angelsächsischen Freude an langen Reden Genüge gethan wurde.

Man kann bei solchen Gelegenheiten manchmal nicht die Ueberzeugung unterdrücken, daß der Festjubel, subjective Begeisterung, sentimentale Weichheit und der gute Wein die Wahrheit fälschen. Hier aber mußte man gestehen, daß kaum einer der Redner die Wirkung von Stephenson’s Werk zu groß darstellte oder darstellen konnte. Die großartige Culturbewegung, zu welcher der Wylamer Kohlenarbeiter den mächtigen Anstoß gegeben hat, ist ja noch im stetigen Wachsen begriffen; noch ist der Eroberungszug des Dampfrosses nicht vollbracht. Weite Ländermassen soll es noch der Cultur unterthänig machen, und es schickt sich soeben an, über die sibirischen Einöden in das volkreiche Herz Asiens und über den glühenden Sand der Sahara in das buntbevölkerte Innere Afrikas einzudringen. Erst wenn die eisernen Schienenstränge mit unzerreißbaren Banden die gesammte Menschheit zu hohen Culturzwecken vereinigt haben, erst dann wird man die volle Tragweite der Erfindung des Helden von Northumberland völlig würdigen, und trotz aller Erfindungen unserer Tage wird wohl noch lange Zeit hindurch das schnell dahinbrausende Dampfroß auf den hohen Rücken der Berge, auf den weiten Steppen der Ebene und in den unterirdischen Gängen einer staunenden Menschheit den Ruhm und die Größe Stephenson’s verkünden.




Literaturbriefe an eine Dame.

Von Rudolf von Gottschall.
XXVI.


Wenn in Ihr Schloß am Meere, verehrte Freundin, das Echo der literarischen und buchhändlerischen Ereignisse dringt, so werden Sie wohl bereits erfahren haben, daß der letzte Band von Gustav Freytag’s „Ahnen" erschienen ist und wir damit von Ingo und Ingraban die Ahnentafel einer Familie bis zu den Zeitgenossen hinab verfolgt haben. Ich könnte die Gewissensfrage an Sie richten, ob Sie sämmtliche „Ahnen“ kennen gelernt haben, und wenn Sie bei diesem Examen schlecht beständen, so würde es um Ihr Renommée in vielen gesellschaftlichen Salons gethan sein, doch auf Ihrem einsamen Schlosse am baltischen Gestade kümmern Sie sich nicht um den Zwang und das Gesetz der Mode, und wenn Sie auch den Ivo und den Markus König oder irgend einen andern König überschlagen haben sollten: Sie können es vor Ihrem eigenen Gewissen, vor Ihren Freunden und auch vor mir verantworten.

Das aber werden Sie nicht wissen, daß der buchhändlerische Erfolg dieser „Ahnen" einer der seltensten ist, von denen die Annalen des Buchhandels in neuerer Zeit berichten; denn Sie interessiren sich nicht für das, was sich die Leipziger Ostermesse erzählt und was dort am Cantatesonntag neben den Klängen der Musiktribüne und den fünfmalhunderttausend Teufeln der Champagnerflaschen durch die Lüfte schwirrt: in der Plauderei des deutschen Buchhandels spielen die „Ahnen" eine große Rolle, die ihnen nicht einmal von den ägyptischen Prinzessinnen von Ebers streitig gemacht wird. Sie kennen das französische Wort: Rien ne réussit que le succès; dieses Wort ist längst in's Deutsche übersetzt worden und hat sich in der Politik, wie in der Literatur bewährt. Vor dem seltenen Erfolge der „Ahnen" hat ein Theil der Kritik, der früher eine etwas polemische Stellung gegen dieselbe einnahm, die Waffen gestreckt; witzige Recensenten, welche den Freytag'schen Ahnensaal mit sehr modernem Esprit glossirten, haben sich in Genealogen verwandelt, welche darüber lange Abhandlungen mit erläuternden Tabellen schreiben. Immerhin ist es erfreulich, daß dieser Erfolg einem Dichter von Talent zu Theil wird,

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